Knuffelcontact

Nicole, ungewöhnlich groß, lebte mit ihren 24 Jahren in einer Zeit der Alternativlosigkeit. Das Studium müsste später sich bezahlt machen, alternativlos. Sie müsste in den nächsten Jahren eine fixe Partnerschaft samt Heirat eingehen, alternativlos, ein Haus in ihrer Heimat bauen, alternativlos und natürlich zwei entzückende Kinder bekommen, alternativlos. Jetzt übersiedelte Nicole aber vor vier Monaten aufgrund eines Auslandssemesters nach Belgien. Es herrschte gerade eine weltweite Pandemie und ihr Freundeskreis verstand die Welt nicht mehr, als sie ihren Entschluss kundgetan hatte. Alle trugen die notwendigen Maßnahmen mit großer Disziplin mit, alternativlos.

Nicole fühlt sich mittlerweile sehr wohl in Brüssel und genießt ihr Studentenleben. Mit dem Studium kommt sie gut voran, den englischsprachigen Vorlesungen kann sie problemlos folgen. Die herrschende Pandemie zwingt immer noch zu Einschränkungen und ein aktueller Lockdown schränkt nochmals ein, natürlich alternativlos oder doch nicht? Nicole hat zu ihrem Erstaunen erfahren, dass trotz der weitreichenden Kontaktverbote und Abstandsregeln in Belgien jede Familie einen Knuffelcontact haben darf. Diesem wird fröhlich die Hand geschüttelt, er wird umarmt, es darf geschmust, gemeinsam Stunden am Sofa oder im Bett verbracht werden und so weiter. Jede Familie darf einen Knuffelcontact haben, die Singles jedoch zwei. Da haben einige in der Politik wirklich nachgedacht, findet Nicole. Sie hat vor zwei Monaten Marc kennengelernt, ihren ersten Knuffelcontact. Marc kocht phantastisch, ist etwas kleiner als sie (kein Wunder), knuffeln funktioniert trotzdem großartig. Nicole hat verschiedene Vorlesungen und so hat sie auch Kobe getroffen. Kobe ist mit 42 Jahren einiges älter, macht gerne Sport und Nicole genießt das Knuffeln dank seiner großen Erfahrung sehr. Während in ihrer Heimat der große Pessimismus und unter ihren früheren Single-Freundinnen die Einsamkeit ausgebrochen ist, knuffelt sich Nicole fröhlich durch Belgien. Ihre zwei Knuffelcontacte kennen sich auch und scheinen nicht eifersüchtig zu sein.

Gestern telefonierte sie mit ihren Eltern. Ihre Mutter konnte es nicht glauben, dass es so etwas wie Knuffelcontact geben könnte. Ihr Vater wollte schon die Koffer packen und ein Studium in Belgien beginnen, was aber ihre Mutter entschieden zurecht verhinderte. Nicole hat den festen Vorsatz auch nach der Pandemie in Belgien zu bleiben. Vielleicht kommt dann ein dritter Knuffelcontact hinzu und sie gründet eine WG, bekommt keine Kinder, heiratet keinen ihrer Knuffelcontacte und selbst das ist nicht alternativlos.

Harald, 13. November 2020

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