Einmal sah ich mitten im Wald eine junge Frau, die mit einem feuchten Putzlappen den Stamm eines Baumes abrieb.
„Was tun Sie da?“, fragte ich sie, während ich mich ihr näherte.
„Ich reibe einen Baum ab“, erwiderte die Frau.
„Und wozu?“
„Weil der Baum schmutzig ist.“
„Sind nicht alle Bäume im Wald gleich schmutzig?“, fragte ich.
„Sie können mir gern helfen“, sagte die junge Frau. „Ich habe noch mehrere Putzlappen dabei.“
„Warum sollte ich das tun? Warum putzen Sie den Baum wirklich?“
„Ich mache es, weil ich dafür bezahlt werde“, sagte die Frau. „Ich bin Studentin und brauche das Geld.“
„Studentin?“, wiederholte ich erfreut. „Das ändert natürlich alles. Was studieren Sie denn und wer bezahlt Sie fürs Bäumeschrubben?“
„Sie sind reichlich neugierig“, konstatierte die Studentin. „Ich will es Ihnen aber verraten. Ich studiere Dendrologie, das ist ein Teilgebiet der Botanik. Bezahlt werde ich im Augenblick von Graf Meller-Mayhoff, der den Wald besitzt, in dem wir uns gerade befinden.“
„Meller-Mayhoff, der alte Knauser, bezahlt Sie?“, hakte ich ungläubig nach. „Mit echtem Geld?“
„Er bezahlt mich in Naturalien. Ich darf aus seinem Weinkeller so viele Flaschen mitnehmen, wie ich tragen kann. Der Graf sagt, er lagere dort viele edle Tropfen, besonders Champagner.“
„Der Graf ist ein Sprücheklopfer!“, rief ich erbost. „In seinem Keller lagern lauter billige Verschnitte und Fusel.“
„Woher wollen Sie das so genau wissen?“
„Ganz einfach: Ich war jahrelang sein Kellermeister.“
„Ich glaube Ihnen nicht“, sagte die Studentin. „Wozu braucht einer, der nur Fusel lagert, einen Kellermeister?“
„Meine Rede!“, rief ich. „Deswegen habe ich ja gekündigt. Der Graf wollte nicht investieren in wirklich edle Tropfen.“
„Nehmen Sie einen Lappen“, sagte die Studentin, „und schrubben Sie mit! Dann sehen wir weiter.“
Folgsam begann ich eine Ulme abzuwischen.
„Nein, nein, nein!“, rief die Studentin schon wenige Augenblicke später. „Sie müssen schon richtig schrubben. Ulmen beißen nicht! Wie wollen Sie den Grafen Meller-Mayhoff in meiner Gunst ausstechen, wenn Sie so zaghaft ans Werk gehen?“
„Ich staune!“, rief ich. „Kann ich mir tatsächlich Hoffnungen machen bei Ihnen?“
„Das ist meine Studentin!“, sagte plötzlich eine schneidende Stimme, und ich wusste ohne hinzusehen, dass es der Graf Meller-Mayhoff war.
„Elvira Sulzwieser, schrubben Sie weiter Ihre Bäume!“, forderte er die Studentin auf. „Lassen Sie sich von diesem Galgenvogel keine Flausen ins Ohr setzen! Denken Sie an den Champagner!“
„Den Sie ja nicht haben!“, warf ich ein.
„Hüten Sie Ihre Zunge, abgehalfterter Kellermeister! Wenn Sie nicht gekündigt hätten, wären Sie am nächsten Tag ohnehin in hohem Bogen hinausgeflogen!“
„Werde ich nun mit Champagner bezahlt“, fragte Elvira Sulzwieser, „oder nicht? Und was bekomme ich, wenn es keinen Champagner gibt?“
„Das spielt doch keine große Rolle“, erwiderte der Graf ärgerlich. „Sie werden schon irgendetwas Passendes finden unter all den Flaschen in meinem Keller. Das Wichtigste ist jedenfalls, dass Sie meine Bäume anständig abschrubben. Ich bezweifle allerdings stark, dass mein ehemaliger Kellermeister, dieser windige Wicht, Ihnen dabei von Nutzen sein kann. Das ist aber Ihre Sache.“
„Ich würde darauf wetten“, sagte ich, „dass von uns beiden Sie die größere Windigkeit besitzen. Und jetzt entfernen Sie sich bitte wieder. Fräulein Sulzwieser und ich haben zu arbeiten.“
„Es ist mein Wald, in dem wir uns befinden!“, erwiderte Meller-Mayhoff. „Daran möchte ich nachdrücklich erinnern!“
„Gehen Sie und schweigen Sie!“, herrschte ich ihn an.
„Aber …“
„Auf der Stelle!“, setzte Elvira Sulzwieser hinzu.
Der Graf fügte sich seufzend und trollte sich.
„Dem haben wir es aber gegeben!“, sagte die Studentin lachend, als Meller-Mayhoff außer Hörweite war. „Wir haben uns eine kleine Pause verdient.“
Sie setzte sich aufs grüne Moos.
„Und eine Belohnung“, ergänzte ich und holte aus meinem Rucksack eine Flasche Champagner und zwei Gläser hervor. „Darf ich mich zu Ihnen setzen?“
„Das dürfen Sie“, erwiderte Elvira Sulzwieser, „wenn Sie mir zuvor etwas in mein Stammbuch schreiben!“
Ich nahm das dunkelgrüne Buch entgegen und dachte ein paar Augenblicke lang nach. Dann schrieb ich Folgendes:
Im Moosbett ja da nehm ich dich
Und nehm zuvor Champagner
Es prickelt ungeheuerlich
Verwöhnen wir einander
„Das ist ein wirklich geistreicher Spruch“, lobte mich die Studentin. „Wir sollten ihn Schritt für Schritt in die Tat umsetzen!“
Genau so machten wir es dann.
Michael, 9. Juni 2023