Vierte Wiener Schule

„Ihre Couch“, sagte ich zu Dr. Leid, meinem Therapeuten, „riecht heute anders als sonst.“

„Echt?“, sagte Dr. Leid erstaunt. „Wie riecht sie denn?“

„Irgendwie prickelnd, perlend, pulsierend.“

„Wie Champagner vielleicht?“, sagte der Doktor.

„Ja, genau!“, rief ich begeistert. „Genau das ist es! Sie riecht nach Champagner!“

„Wundert mich gar nicht“, sagte mein Therapeut. „Mein voriger Patient, ein lokaler Schaumweinzwischenhändler hat heute immerzu auf meine Couch gerülpst, während unserer Sitzung.“

„Das erklärt einiges“, sagte ich.

„Vielleicht“, sinnierte Dr. Leid, „können wir uns Ihr feines Näschen zunutze machen.“

„Inwiefern?“, fragte ich. „Psychoanalyse und Champagner haben doch wohl nichts gemein.“

„Dass Sie sich da nicht täuschen!“, rief der Doktor. „Man kann die Psyche des Menschen durchaus als ein bauchiges und zugleich längliches Gefäß betrachten, in dem eine prickelnde Flüssigkeit ruht, die gelegentlich herauswill.“

„Ist das Ihre eigene Theorie, Doktor?“

„Oh ja!“, schwärmte Dr. Leid. „Jahrelang habe ich Flasche um Flasche geköpft, stets erlesene Champagner, versteht sich, verkostet und in meine Theorie hineingespürt und sie verfeinert. Der vorhin erwähnte Schaumweinzwischenhändler hat mich nach Kräften dabei unterstützt.“

„Und was ist das Ergebnis Ihrer Forschungen?“, fragte ich nach.

„Ich fasse es für Sie zusammen“, sagte Dr. Leid. „Die Psyche des modernen champagnerkompatiblen Menschen besteht im Groben aus drei Komponenten oder Instanzen: dem Champagner-Es, dem Champagner-Ich und dem Champagner-Über-Ich.“

„Faszinierend!“, rief ich begeistert.,“Führen Sie es doch weiter aus!“

„Gern! Im Champagner-Es sind die Triebe beheimatet, also das Streben nach dem reinen Alkohol an sich, einerlei, ob es sich um den billigsten Fusel aus dem Schaumweintankwagen handelt oder um den formidabelsten Champagner. Im Champagner-Ich sind die Beschaffungsvorgänge geregelt. Es handelt sich um die Beantwortung der Fragen: Woher bekomme ich meinen Stoff, woher habe ich ihn in der Vergangenheit bekommen und wo werde ich ihn mir in der Zukunft besorgen? Und natürlich geht es auch um um die Fragen: Saufe ich jetzt oder später? In Gesellschaft oder lieber allein und kann ich mir das alles leisten? Im Champagner-Über-Ich werden die ethischen Fragen und die Gewissensbisse verhandelt: Muss ich soviel saufen, wie ich saufe? Soll ich an meine grauen Zellen denken oder an die Leber? Was ist mit dem Führerschein und warum flirtet meine Frau andauernd mit einem abstinenten Eremiten?“

„Genial, Doktor“, rief ich spontan, „wirklich genial! Sie begründen damit die Vierte Wiener Schule der Psychotherapie! Darauf müssen wir trinken!“

„Geht leider nicht“, sagte Dr. Leid, „ich habe mir bei meinen Forschungen meine Leber kaputtgesoffen. Ich werde nichts publizieren und trinke nur noch Wasser.“

„Aber das macht doch gar nichts!“, strahlte ich. „Sie müssen fast nichts ändern: Die Psyche des modernen wasserkompatiblen Menschen besteht aus drei Instanzen: dem Wasser-Es, dem Wasser-Ich und dem Wasser-Über-Ich.“

„Phänomenal!“, frohlockte der Doktor. „Auf die heutige Sitzung sind Sie eingeladen!“

Michael, 23. Juni 2023

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