Vor ein paar Wochen wurde ich von meinem Zwillingsbruder Theophil, der wie ich Historiker ist, in das thüringische Nest Vieselbach zitiert, einen Ortsteil der Landeshauptstadt Erfurt. Ich solle mich dort zum Bahnhof begeben, den Bahnsteig bis zu seinem Ende abschreiten und danach ein paar Kilometer in südwestlicher Richtung den Gleisen folgen, bis ich rechter Hand auf einen mächtigen Birnbaum stieße, unter dessen Blätterdach er mich erwarte.
Obwohl Theophil mich davor mehrmals mit krausen und unhaltbaren Theorien genarrt und an geschichtlich völlig bedeutungslose Orte gelockt hatte, erweckten in diesem Fall seine Bestimmtheit und präzise Beschreibung unseres Treffpunkts mein Interesse. Ich trat also die Reise nach Vieselbach an.
Am Bahnhof hielt ich mich an Theophils Anweisungen und stand bald am Birnbaum.
„Schön, dass du kommen konntest, Albert“, sagte Theophil, während er aus der Deckung des mächtigen Stammes hervortrat. „Du wirst es nicht bereuen.“
„Ich hoffe, dass du recht hast, Theophil“, erwiderte ich. „Was hast du diesmal ausgegraben?“
„Ich komme gleich zur Sache. Der Bahnhof Vieselbach, von dem du losgegangen bist, liegt, wie du weißt, an der Bahnstrecke zwischen Halle und Bebra.“
Er wies auf die Gleise.
„Im April 1917 führte Lenins sogenannte Reise im plombierten Wagen über diese Route. Als der Zug am 11. jenes Monats außerplanmäßig in der einsetzenden Abenddämmerung vor Vieselbach hielt, war der Revolutionär, der den dritten Tag in einem engen Abteil unterwegs war, bereits ein wenig dünnhäutig und nutzte den Halt, um sich kurz aus seinem Wagen zu stehlen und im Freien frische Luft zu schnappen und zu rauchen.“
„Ich dachte“, unterbrach ich Theophil, „der Wagen sei plombiert gewesen? Wie konnte Lenin dann den Zug verlassen?“
„Die Plombierung“, führte Theophil weiter aus, „bestand lediglich darin, dass drei der vier Türen versperrt waren. Lenin wusste darüber natürlich Bescheid. Als er neben dem Gleis stand und rauchte, überkam ihn, obwohl in Russland bereits die Revolution auf ihn wartete, eine Wehmut gegenüber der Bourgeoisie, die er für immer zu verlassen im Begriff war, und er nahm Abschied von ihren Errungenschaften, nach denen er sich zugleich noch sehnte, und rief seufzend aus, dass er gern noch ein letztes Glas Champagner getrunken hätte.“
„Aber er stand hier doch im Tal der Gera“, rief ich dazwischen, „am Rand des Thüringischen Beckens! Keine klassische Schaumweingegend, oder?“
„Nein, in der Tat“, bestätigte mein Zwillingsbruder. „Aber Lenin hatte in jenem Augenblick sagenhaftes Glück. Sein Ausruf wurde von einem Einheimischen gehört, der ein kleines Häuschen neben der Bahnstrecke besaß. Der Einheimische wiederum hatte gerade Besuch erhalten von einem Verwandten, dem Pfarrer Güldenapfel, der zwar in Vieselbach geboren war, aber irgendwo in der Fremde eine Pfarre leitete. Güldenapfel hatte als Gastgeschenk eine Flasche Champagner mitgebracht. Der Einheimische in dem Häuschen machte sich allerdings nichts mehr aus alkoholischen Getränken und schlug Güldenapfel deshalb vor, dass er die Flasche doch draußen mit dem Fremden aus dem Zug leeren solle; passende Gläser seien jedenfalls im Haus. Seine Frau habe sie einmal besorgt. Güldenapfel packte die Flasche und zwei Flöten und stürmte hinaus zu dem immer noch rauchenden Lenin und bot ihm an, den Wunsch, den er davor geäußert hatte, spontan zu erfüllen.
Als Lenin die Flasche und die Flöten bemerkte, war er so gerührt, dass er nicht ablehnen konnte. Der Pfarrer ließ den Korken gegen die Seitenwand von Lenins plombiertem Wagen knallen und schenkte ihnen ein. Nachdem sie einander zugeprostet und erste Schlucke von dem edlen Getränk zu sich genommen hatten, war Lenin mit sich beinahe schon wieder im Reinen. Er sagte dem Pfarrer Güldenapfel, dass große Aufgaben auf ihn warteten und dass er Weltgeschichte schreiben wolle. Der Champagner habe ihn nun in seinem Vorhaben wesentlich bestärkt. Eine Kleinigkeit fehle allerdings noch. Er spüre nämlich plötzlich das Bedürfnis, mit den Fingern die Blätter eines Baumes anzuschnippen, so, wie man es sich manchmal eben wünscht. Es sei doch ein Baum da, erwiderte der Pfarrer. Dessen Blätter könne er ganz nach Belieben mit den Fingern anschnippen, so lange er wolle. Lenin nickte erfreut. In diesem Augenblick öffnete sich die Wagentür und Karl Radek, ein österreichischer Sozialist, der ebenfalls im Zug reiste, forderte Lenin auf, wieder einzusteigen. Die Weiterfahrt des Zuges stünde unmittelbar bevor. Lenin verzichtete schweren Herzens aufs Anschnippen der Blätter, gab Pfarrer Güldenapfel das leere Champagnerglas zurück, verabschiedete sich und setzte wenige Augenblicke später, als der Zug sich wieder in Bewegung setzte, seine Reise fort.“
Nachdem Theophil seine Erzählung beendet habe, folgten ein paar Sekunden der Stille.
„Was hältst du davon, Albert?“, fragte mich mein Bruder dann.
„Das fragst du noch?“, rief ich erbost. „Blätter anschnippen, wie? Das ist der hanebüchenste Unfug, den du dir je ausgedacht hast, Theophil!“
„Aber alles, was ich dir erzählt habe, ist wahr!“
„Wer’s glaubt, wird selig! Wer hat dir das Märchen aufgetischt?“
„Der Sohn des Einheimischen, der in der Geschichte vorkommt“, sagte Theophil, „hat mir das Tagebuch des verstorbenen Pfarrers Güldenapfel überlassen, dessen Erbe er ist. Dort steht alles geschrieben.“
„Schön und gut“, sagte ich, „aber wen interessiert es, dass Lenin 1917 irgendwo in einer gottverlassenen Gegend die Blätter irgendeines Baumes anschnippen wollte?“
„Verstehst du es denn nicht, Albert?“, rief Theophil aufgebracht. „Es ist der Birnbaum, unter dem wir beide stehen, dessen Blätter Lenin vor mehr als 100 Jahren anschnippen wollte! Das heißt, dass nun wir in Gedenken an den großen Revolutionär die Blätter anschnippen können!“
Ich wollte nicht sofort zugeben, dass mir der Gedanke doch ein wenig zu gefallen anfing.
„Wir haben ja nicht einmal Champagner“, nörgelte ich, schwächer als beabsichtigt. „Sonst würde ich mich ja vielleicht überreden lassen.“
„Haben wir doch!“, strahlte Theophil und fing in seiner Aktentasche zu kramen an, die er an den Stamm des Birnbaums gelehnt hatte. Er zauberte eine Flasche Moët & Chandon und zwei Gläser hervor. Ich gab meine Einwände auf.
„Auf die Revolution!“, rief Theophil, während wir einander zuprosteten.
Wir tranken abwechselnd Champagner und schnippten mit den Fingern die Blätter des Birnbaums an, und es gefiel uns am Ende so gut, dass wir erst zum Bahnhof in Vieselbach zurückwanderten, als es schon dunkel war.
Michael, 21. Juli 2023
Hasta la victoria siempre
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