Der Steg

Anna ging langsam den Steg hinaus. In der Hand eine Champagnerflasche und ein Glas. Die Zeit für zwei Gläser war endgültig vorüber, vielleicht sogar überhaupt die Zeit der Gläser. Ein Glas für Rotwein, eins für Weißwein, für Weißbier, für Whiskey, Gin, es reichte. Kein Glas hat jemals das Versprechen erfüllt, Anna fühlte sich betrogen. Wo waren die Männer aus der Rotweinwerbung? Verflüchtigten sich – wenn überhaupt vorhanden – wie ein Phantom, übrig blieben vergorene, rote Trauben. Das Cabrio brachte bürgerliche Konvention, keine Spur von versprochener Freiheit. Das Haus – die Idylle schlechthin, das Förderbare, Wunschtraum – löste sich in Routine, Langeweile, Rasenmähen und Normalität auf. Klein denken, groß reden und moralisieren. Die Moral, Auslöser alles Schlechten, verkehrt der Moralist in etwas Erstrebenswertes, was nur für ihn stimmen kann. Neidvoll blickend auf den Freien ohne zu erahnen, dass Freiheit weh tut und dieser Schmerz unendlich schön ist, für ihn aber nicht aushaltbar. Anbiedernd an Gruppen, Anna denkt an ihren Ex-Mann, wiederholend, nur ein einziger eigener Gedanke hätte ihn vielleicht gerettet, aber unmöglich. Anna blickte auf das Meer, legte das Champagnerglas für immer zur Seite. Eigentlich war das Meer bunt, nur Wellen filterten den Regenbogen zu dem bekannten Blau. Sie kam zur Ruhe, blau reichte nicht mehr. Am Ende des Stegs entledigte sich aller Kleider, nichts sollte anhaften, schüttelte den Champagner, ließ ihn knallen und über ihren Körper sprudeln, sprang. Tauchte unter als Sirene, tauchte auf als Muse und betrat nackt den Strand. Offen für alles, nur nicht für das Alte. Und ihr kam ein Zitat, das sie vor kurzem gelesen hatte, in den Sinn: „Das Sein entsteht aus dem Nichts, das Nichts aus dem Garnichts und das Garnichts aus dem Sein“. Sie fühlte sich bereit für das Abenteuer, für die Drachen, neugierig und lebendig, irgendwo, nicht definierbar.

Harald, 28. Juli 2023.

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