Fläschlein-Füll-Dich

Mein Vater hatte mich verstoßen. In der Fremde erlernte ich das Handwerk des Glasers. Am Ende meiner Ausbildungszeit schenkte mir mein Meister ein Fläschlein-Füll-Dich als eine besondere Belohnung für seinen besten Schüler. Ich lüftete meinen Hut zum Gruß und zum Dank, ehe ich mich auf den Weg machte, um nach Hause zurückzukehren.

Das Fläschlein-Füll-Dich füllte sich auf Zuruf von selbst mit den herrlichsten alkoholischen Getränken, die man sich nur vorstellen konnte. Man konnte es immer wieder leer trinken, nie wurde es müde und füllte sich stets von Neuem, wenn man dies wünschte. 

Nach ein paar Tagen beschwerlicher Wanderung nächtigte ich bei einem Wirt, der sich sehr für mein Fläschlein-Füll-Dich interessierte. Er bat mich, es ihm die Nacht über zu überlassen, damit er es genau studieren und gegebenenfalls nachmachen könne. Ich willigte ein. 

Am Morgen gab er mir mein Fläschlein zurück. Es tauge nicht mehr viel, sagte er. Zu Anfang habe es gehorsam viele schöne Schaumweine hervorgebracht; im Laufe der Nacht sei es jedoch immer schwächer geworden und habe sich schließlich nur noch mit Wasser gefüllt. Er, der Wirt, wolle mir das Fläschlein-Füll-Dich nun deshalb gleich zurückgeben. Er habe es gar nicht nachgemacht. Es sei für ihn ohne Wert; Wasser besitze er nämlich selbst mehr als genug. 

Ich schenkte ihm Glauben und zog von dannen mit meinem Fläschlein, das schon ein paar Stunden später vertrocknete und sich nicht einmal mehr mit Wasser füllte. 

Der Vater, der mich lange Zeit zuvor verstoßen hatte, nahm mich zwar wieder bei sich auf, jedoch nur widerwillig, als er davon erfuhr, wie es mir mit dem Fläschlein-Füll-Dich ergangen war. 

„Du hast zwar den Beruf des Glasers, erlernt, mein Sohn“, sagte er. „Das halte ich dir zugute. Der Wirt aber hat dich betrogen, weil du einfältig gehandelt hast. Ich sage es dir gerade heraus, dass ich dich deshalb für einen Versager halte.“ 

Weil ich die Schmach nicht auf mir sitzen lassen wollte, ließ ich Nachforschungen anstellen, wie es denn in der Zwischenzeit dem Wirt ergangen war, bei dem mein Fläschlein-Füll-Dich seinen Geist aufgegeben hatte. Ich musste mich lange gedulden. 

Erst über ein halbes Jahr später erhielt ich von einem berittenen Boten folgenden Bericht: Der Wirt habe mich schamlos getäuscht. Er hätte in jener Nacht mein Fläschlein-Füll-Dich sehr wohl nachgebaut und mir eine schlecht gelungene Kopie zurückgegeben. Das klaglos funktionierende Original hätte er sich ohne Unterlass mit Champagner füllen lassen, mit dessen Hilfe er in seinem Gasthaus rauschende Feste gefeiert hätte, an denen er Unsummen verdient habe. Der ganze Landstrich sei regelmäßig bei ihm eingekehrt, weil sein Champagner von besonderer Güte und zu einem vernünftigen Preis zu haben gewesen sei. Irgendwann, als dem Wirt sein unrecht erworbener Ruhm so sehr zu Kopf gestiegen sei, dass all seine Gäste sich schon wunderten, sei einer im Gasthaus aufgetaucht, der sich als Steuereintreiber zu erkennen gegeben habe. Der kreidebleiche Wirt, der selbst all seine Einnahmen verprasst hatte, habe seinen enormen Steuerrückstand nicht ausgleichen können und sei in den Schuldturm gewandert, wo er heute noch säße. 

Mein Fläschlein-Füll-Dich sei sichergestellt worden, beendete der Bote seinen Bericht. Ich könne es mir im Gasthaus jederzeit abholen. 

Ich winkte ab. Hin und wieder ein Gläschen Champagner sei wohl in Ordnung, sagte ich, ich könne es mir von meinen Einkünften als Glaser ohne schlechtes Gewissen leisten, wann immer mir der Sinn danach stünde. Auf das Fläschlein-Füll-Dich, auf dem augenscheinlich kein Segen liege, könne ich aber leichten Herzens verzichten.

Michael, 11. August 2023.

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