Im Spätsommer überkam Georg wieder diese Traurigkeit und diese Schwere. Nichts geht mehr leicht, selbst der Champagnerkorken war am Abend nicht einfach durch den Garten geflogen, sondern brauchte mehrere Anläufe, um nur mit einem leiseren „pffft“ die Flasche zu verlassen. Georg machte sich sofort im Internet schlau, um herauszufinden, ob der Champagner dann überhaupt noch zu genießen wäre. Das Ergebnis passte zu seiner Stimmung, da – so stand es auf einer renommierten Fachseite – nur Kulturbanausen es knallen lassen würden, während „pffft“ das einzig zulässige Geräusch war. Georg hatte also wieder den ganzen Sommer alles falsch gemacht, das Öffnen der Champagnerflaschen (so seine nunmehrige Eigeneinschätzung), die kleine Affäre mit der Französin (so seine Frau), die Anlagestrategie (sein Vermögen war achtstellig geworden) und seine eingebildete Depression (sein Arzt sprach von Melancholie). Georg nahm einen kräftigen Schluck Champagner und beobachtete einen kleinen Käfer, der gerade zielstrebig einen Grashalm erklomm. Georg wollte den Käfer, dessen Panzer grün schimmerte, an seinem Gemütszustand teilhaben lassen und schüttete etwas Champagner auf den vor ihm befindlichen Grashalm. Der Käfer machte sich sofort auf den Weg, aber Georg konnte genau seinen verächtlichen Ausdruck beim Kosten entdecken und der Käfer schien ihn förmlich zu bemitleiden, dass er sich mit einem so miesen Champagner zufriedengeben würde. Georg trank nochmals das Glas leer und schenkte den Rest der Champagnerflasche nach. Mit dem Glas in der Hand verließ er den Garten und schlenderte die Allee hinunter. Er hatte kurze Hoffnung, dass sich sein Zustand verbessern würde, als das Telefon klingelte. Als sein Anlageberater von einer neuen Strategie sprach, teilte ihm Georg mit, dass er die Zusammenarbeit beenden würde und legte sofort auf. Nach wenigen Minuten traf er einen Straßenmusiker und setzte sich zu ihm. In einer Pause gab er ihm sein Champagnerglas und legte einen Geldschein in den vor ihm liegenden Hut. In dem Gespräch stellte sich heraus, dass dieser ebenfalls nach dem Sommer die Melancholie deutlich spürte. Er wäre eigentlich Professor für Germanistik und früher waren die Studentinnen und Studenten deutlich motivierter als heutzutage. Georg nickte und erinnerte sich noch an die Affäre des letzten Sommers, eine Portugiesin, kein Vergleich. Beide spürten die nostalgischen Gefühle, in vergangenen Zeiten war es tatsächlich einfach besser. Der Professor spielte wieder und Georg versank in der Musik. Später nahmen sie sich zur Verabschiedung in die Arme und bemitleideten sich gegenseitig. Die Welt, ein einziger Schmerz, beide hineingeworfen in eine harte Realität, kaum auszuhalten. Der Straßenmusiker nippte nochmals am Champagner und zumindest ihm schien er zu munden. Als Georg einige Meter entfernt war, hörte er den Straßenmusiker vor Freude schreien, so viel Geld hatte er noch nie in drei Stunden erhalten. Nun war Georg der Einzige mit diesem Blues, ganz allein auf dieser Welt. Fast angekommen bei seiner Villa, hatte er neun Sprachnachrichten seines Anlageberaters. Dieser teilte ihm darin mit, dass sein Vermögen nun wieder deutlich im neunstelligen Bereich wäre und stellte die Frage, was er denn mit dem prallgefüllten Girokonto nun vorhätte. Georg wirkte nun wieder etwas zufriedener. Als er in der Bibliothek auf seine Frau traf, teilte er mit, dass er im Herbst studieren anfangen würde. Seine Frau nickte und war irgendwie froh, dass der Sommer und das mit dem Italiener vorbei war. Sie legte eine Platte von Muddy Waters auf und versank im Armsessel mit dem Buch „Melancholie in unsicheren Zeiten“ von Hermsen. Georg lächelte und wusste, dass seine Ehe wirklich etwas Besonderes war.
Harald, 15. September 2023