Ich wollte immer schon hoch hinaus, brach wegen ein paar Unwägbarkeiten die Hauptschule ab, später die Berufsschule und schmiss auch die Aufnahmeprüfung an der Uni. Durch meinen etwas brachialen Charme konnte ich relativ schnell Frauen aus der von mir so herbeigesehnten Oberliga kennenlernen. Im Gemeindebau wunderten sich manche, dass ich jeden Freitag im Maßanzug mit einer teuren Uhr am Arm wegging und in eine Limo stieg. Kurz vor 05.00 Uhr am Morgen kam ich meist zurück. Die Zeit mit Nadine war das Highlight meiner Woche. Selbst Sandra, die über mir wohnte, konnte da nicht mithalten und akzeptierte meine Freitage und Freiheiten. Es hätte ja ewig so weitergehen können, wäre nicht eines Freitags etwas Unschönes passiert. Ich wusste, dass der Reichtum von Nadine nicht unumstritten war, das machte mir aber angesichts der Kaschmirbettdecke nichts aus. Es war gegen vier Uhr morgens, als wir ein Geräusch hörten. Nadine schrie auf: „Mein Mann kommt heute wohl früher nach Hause!“ Sie drückte mir meinen Anzugoberteil in die Hand und schmiss mein restliches Gewand in den Ankleideraum. Ich ging halbnackt im Halbdunkeln die Treppe hinunter und hörte den ersten Schuss auf halber Treppe. Ich rannte nun schnell, als der zweite Schuss fiel. Dieser traf mich im Kopfbereich und ich spürte wie das Blut herausströmte. Ich konnte noch weiterrennen Richtung Westflügel, als weitere Schüsse fielen. Ich griff am Tisch nach irgendetwas um mich zu schützen, aber ein weiter Schuss traf mich im Brustbereich und die Kugel steckte in meiner Brusttasche. Der Tod stand mir bevor, soviel war mir klar. Im Westflügel öffnete ich eine Tür und konnte in den Garten flüchten. Dort wurde ich weiter beschossen. Wie durch ein Wunder schaffte ich es noch bis zu meiner Wohnung und lag blutüberströmt in meinem Bett. Die Nacht würde ich nicht überstehen. Als ich am nächsten Tag aufwachte, griff ich nach meinem Kopf. Ich spürte die Feuchtigkeit des Blutes, roch am Finger, kostete. Ich war gestorben, das Blut schmeckte nach Champagner und so konnte der Himmel also kommen. Als ich aufstand, griff ich in die Brusttasche und fand eine Kugel. Nadines Mann beschoss mich zumindest nicht mit Moet & Chandon, sondern mit Champagner namens Krug Vintage Brut 1988. Um 09.15 klingelte das Telefon. Nadine meinte, sie hätte ihren Mann schon zurechtgewiesen und ich dürfte mir das Paket ruhig behalten als kleine Entschädigung. Als sie am Ende fragte, ob ich Freitag mal wieder Lust hätte, war ihr klar, dass diese Liaison zu Ende ging. Das Paket, das ich zum Schutz vor dem Beschuss an mich genommen hatte, war reinstes Kokain mit einem Marktwert von fast vier Millionen Euro. Nadine half mir noch beim Loswerden. Mit Sandra, die sich nach dem Vorfall nur kurz über meinen blauen Hintern wunderte, lebe ich nun im Gemeindebau zusammen. Wir haben das gegenüberliegende Café gekauft, auch das Reisebüro. Am liebsten sind wir – wenn es hier wieder kälter wird – auf Mallorca. Unsere Nachbarinnen und Nachbarn gewinnen übrigens auffallend oft Mallorca-Urlaube samt Gutscheinen für die angesagtesten Partys. Die Gebietskrankenkasse hat mittlerweile eine Studie in Auftrag gegeben, da in unserem Gemeindebau die durchschnittliche Lebenserwartung massiv steigt und keiner mehr eine Kur beantragt. „Bring mich nach Hause…“, beginnt Sandra zu singen. Ich gröle weiter: „An den Strand von Arenal…“ Sonne, ein paar Gramm, die wir uns für den Gemeindebau-Eigenbedarf behalten haben, die Bar, Open-Air-Partys, Mia Julia und die Freiheit, die Nacht auch mal mit jemanden anderen zu verbringen, halten uns allen Anschein nach jung und gesund. Den angesagtesten Club auf Malle habe ich mit Sandra übrigens dann auch noch gekauft. Irgendwie habe ich fast das Gefühl, dass mit der Oberliga könnte doch noch klappen.
Harald, 20. Oktober 2023.