Volkskicker

Einmal erwachte ich mitten in der Nacht und war der Volkskicker Kanzl. Mein Herz pochte wie wild, als das Volk wie wild an meine Tür pochte.

„Was willst du, Volk?“, rief ich hinaus. „Es ist tiefschwarze Nacht!“

„Du musst für uns die Champignonliga gewinnen, Volkskicker Kanzl!“, entgegnete das Volk. „Los, steh auf und komm heraus! Es geht gegen Surreal Madrid!“

Die Champignonliga war genau das Richtige für meine unerreichte Größe. Ich fühlte mich dem Volk verpflichtet, sprang aus meiner Wiege, sprang in meinen blau-braunen Kinder-Fussballdress, sprang in den Mannschaftsbus, der draußen mit laufendem Motor wartete. Den Bus, der zwei Sitzplätze hatte, einen für den Fahrer und einen für mich, nannte das Volk auch Microcar.

Der Fahrer stieg aufs Gas und raste im Fackelschein durch das Spalier der jubelnden Volksmassen direkt in Richtung Madrid.

„Hast du den Ball?“, fragte ich den Fahrer, meinen langjährigen treuen Kampfgefährten Orlando Udbauer, als wir auf der Autobahn waren.

„Während der Fahrt ist das Sprechen mit dem Fahrer verboten!“, rief Orlando. „Und ja, ich habe den Ball! Und jetzt muss ich zusehen, dass wir die Mindestgeschwindigkeit erreichen und halten.“

Schon nach wenigen Wochen kamen wir in Madrid an. Das Stadion Barbarossa war gefüllt bis auf den letzten Platz. Orlando parkte den Bus zwischen zwei Abfalltonnen. Ich schnappte mir den Ball und lief durch die Kabine sofort aufs Feld. Die gegnerische Mannschaft von Surreal Madrid, mit der ich es spielend aufnehmen würde, war bereits auf dem Platz. Es handelte sich um elf weiße Andalusierhengste. Der Schiedsrichter sah mich streng an.

„Der Ball!“, rief Orlando vom Spielfeldrand. „Du musst ihn noch aufpumpen!“

„Gib mir die Pumpe“, raunte ich Orlando zu.

„Wir haben keine Pumpe“, gestand Orlando Udbauer. „Selbst ist der Mann! Blas ihn mit dem Mund auf!“

Während ich mich selbst aufblies und danach den Ball aufzublasen versuchte, wieherten die Spieler von Surreal Madrid vor Vergnügen.

„Es geht nicht!“, rief ich nach zehn Minuten verzweifelt und gab den Ball an Orlando weiter. „Blas du ihn für mich auf!“

Orlando Udbauer hustete einmal kurz ins Ventil. Sofort war der Ball hart wie eine Stahlkugel. Die Begegnung konnte beginnen. Der Schiedsrichter pfiff an. Die Hengste des weißen Balletts trabten und galoppierten nach Belieben um mich herum. Ich fand nicht ins Spiel.

Nach vier Minuten lag ich bereits mit 0:8 im Rückstand. Hinter meinem Tor bildeten sich riesige Pfützen aus den Tränen meiner mitgereisten Anhänger. Die Hengste von Surreal Madrid hatte plötzlich keine Lust mehr auf weitere Treffer und begannen den Stadionrasen abzugrasen. Mir gelang leider immer noch nichts.

„Volkskicker Kanzl, du musst dein Momentum finden!“, rief Orlando Udbauer, der irgendwie auch mein Betreuer war. „Du musst gierig sein auf den Sieg und extremes Pressing spielen!“

„In erster Linie“, gab ich zurück, „brauche ich etwas zu trinken.“

„Wir haben bloß den Champagner“, rief Orlando, „den wir eingepackt haben, um deinen Triumph zu feiern.“

„Egal!“, sagte ich. „Gib schon her!“

Ich setzte die Flasche an, die fast so hoch war wie ich selbst, und ließ die edle Flüssigkeit durch meine Kehle laufen. Der Alkohol bekam mir nicht. Ich torkelte benommen die Torlinie entlang und bekam den Ball nicht unter Kontrolle, obwohl meine Gegner weiterhin kein Interesse an mir zeigten.

„Nun kann uns nur noch ein Wunder retten“, seufzte Orlando. „Ein wirklich großes Wunder!“

Das Wunder geschah. Plötzlich kletterte eine grüne Gestalt aus meinem Fansektor über die Bande. Es war eine Frau, die auf mich zulief. Kurz bevor sie mich erreichte, begriff ich, dass es sich um meine lange verschollene Kindergartenfreundin Glawa Evischnigg handelte. Ich drehte sofort die Flasche zur Seite. Glawa zog mich an beiden Ohren in die Höhe und küsste mich tapfer auf den Mund.

Der Kuss gab mir soviel Kraft, dass ich den Ball packte, loslief und viermal hintereinander einen Doppelpack schnürte. Es stand nun 8:8, für mich das schönste Ergebnis der Welt. Da mein letzter Schuss so wuchtig ausgefallen war, dass die gesamte Luft aus dem Ball entwich, und laut den Fussballregeln das Aufblasen des Balles während eines Spiels untersagt ist, pfiff der Schiedsrichter die Partie ab. Aufgrund der Auswärtstorregel hatte ich, wie von meinem Volk erwartet, die Champignonliga gewonnen.

Die Hengste von Surreal Madrid weideten seelenruhig und völlig unbeteiligt weiterhin den Rasen ab, während Orlando Udbauer mich im Triumph aus dem Stadion trug. Er ließ unseren Mannschaftsbus zwischen den Abfalltonnen stehen und bog gleich zu Fuß auf die Autobahn ab. Der Rückweg dauerte genauso lange wie der Hinweg.

Zu Hause erwartete mich bereits das Spalier aus jubelnden Massen, an dessen Anfang man mir als Ehrengabe das dünne goldene Brett des Siegers vor den Kopf schnallte, in dem ich während meines gesamten triumphalen Einzugs in die Heimat hemmungslos bohrte.

Michael, 20. Oktober 2023

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