Kandelaber

Einmal erreichte Roderich auf einer seiner endlosen Wanderungen durchs Alpen­vorland ein halbverfallenes Wasserschloss. Neugierig und ohne Scheu wie er war, überquerte er auf der herabgelassenenen Zugbrücke den Schlossgraben. Unten im Wasser schwammen ein paar Krokodile, die den Besucher interessiert taxier­ten, fast so, als ob sie Roderichs Nährwert zu schätzen suchten. Dass kaltblütige Panzerechsen zu Derartigem imstande waren, dachte Roderich, war zu bezwei­feln. Um seine geistige Überlegenheit zu untermauern drehte er ihnen ein paar lan­ge Nasen und schlüpfte dann durchs Tor in den Schlosshof. Drinnen empfing ihn der Schlossherr in einem hautengen Krokodillederanzug, der schon ein wenig in die Jahre gekommen war und an manchen Stellen speckig glänzte. Roderich frag­te, wo und wie er sich im Schloss im Tausch gegen ein Nachtquartier nützlich ma­chen könne. Er könne, erwiderte der Schlossherr, ein paar von den Kandelabern polieren, die immerzu verstaubten, wenn man sie nicht regelmäßig mit dem Lap­pen rieb. Roderich willigte ein und ließ sich ins Leuchtmitteldepot führen. Fassungslos ließ er seinen Blick über die Regale schweifen. „Ein paar Kandela­ber?“, rief er dann ungläubig. „Das müssen ja mehrere hundert sein!“ Es seien genau 666, erwiderte der Schlossherr. Dies sei selbstverständlich kein Zufall. Roderich fragte, wie viele denn polieren müsse, damit er ein kostenloses Nacht­quartier bekäme. Mehr als die Hälfte müssten es schon sein, sagte der Schloss­herr. Sein Wasserschloss sei schließlich nicht irgendein Quartier. Dann werde er wohl bis Mitternacht polieren müssen, seufzte Roderich. Während der Arbeit würden ihn sicher Hunger und Durst plagen. Das sei allerdings Teil der Prüfung, erläuterte der Schlossherr, dass erst nach getaner Arbeit ans leibliche Wohl ge­dacht werden dürfe. Enthaltsamkeit während des Polierens sei unabdingbar. Er, der Schlossherr, müsse ihn, Roderich, auch ausdrücklich davor warnen, dass er an den Armen der Kandelaber die dort an den Spitzen angebrachten Verschlüsse abschraubte. In den Armen sei nämlich eine Flüssigkeit enthalten, die ihn, Rode­rich, aber nichts anginge. Er dürfe unter keinen Umständen von dieser Flüssig­keit kosten. Roderich gelobte es und bat dann darum, dass er mit seiner Arbeit beginnen durfte, damit er im günstigen Fall sogar noch vor Mitternacht alles erle­digt hätte. Der Schlossherr nickte und ließ Roderich allein. Roderich polierte wild drauf los. Bereits nach kurzer Zeit trat ihm Schweiß auf die Stirn. Ihn verlangte nach einem kühlenden Getränk Irgendwann erinnerte er sich an die mahnenden Worte des Schlossherrn. Aus Neugier begann er einen der Kandelaber auf den Kopf zu stellen und heftig zu schütteln, um zu ergründen, was es mit jener Flüssigkeit auf sich hatte, die sich angeblich in den Armen be­fand. Da nichts zu hören war, nahm Roderich an, dass der Kandelaber bis zum Rand gefüllt war. Noch einmal riss er sich am Riemen und stürzte sich aufs Polie­ren. Er machte weiter, bis sein Durstgefühl so stark war, dass er es nicht mehr aushielt. Er packte den Kandelaber, den er gerade bearbeitete, und schraubte am äußersten Arm den Verschluss ab, setzte die Öffnung an seinen ausgetrockneten Mund und trank gierig. Es schmeckte köstlich. Es handelte sich um den erlesens­ten Champagner, den Roderich je genossen hatte. Er schraubte auch noch die an­deren Verschlüsse ab und soff, man kann es nicht anders nennen, den Kandela­ber leer. Danach verschloss er die Arme wieder, stellte den Kandelaber zu den anderen und polierte munter weiter. Er schaffte noch ein weiteres Dutzend, ehe es ihn erneut überkam und er den nächsten Verschluss abschraubte und trank und danach gleich noch einen und noch einen. Schließlich war Roderich so be­trunken, dass er den Schlossherrn nicht bemerkte, der plötzlich wie aus dem Nichts im Leuchtmitteldepot auftauchte und ihn, Roderich, mit seinen Blicken grimmig durchbohrte. Er habe sein Vertrauen missbraucht, schalt der Schloss­herr seinen Gast. Dies könne nicht ungesühnt bleiben. Das Leben als Schlossherr und als Hüter der Kandelaber sei hart, schier unerträglich und der hautenge An­zug aus Krokodilleder verstärke die Qual noch. Auch er, der Schlossherr, habe einst als freier Mann vom Champagner aus den Kandelabern getrunken und sei von seinem Vorgänger zur Strafe mit einem Fluch belegt worden. Genau so werde er nun mit Roderich verfahren. Ehe Roderich sich zur Wehr setzen konnte, zog der Schlossherr hinter seinem Rücken eine elektrische Trockenhaube hervor, die er Roderich über den Kopf stülpte. Als er sie einschaltete, bildete sich plötzlich auch auf Roderichs Körper ein Krokodillederanzug, der so eng war, dass er Rode­rich überall zwickte und einschnürte. „Nun bist du der neue Schlossherr“, rief der alte Schlossherr. „Und ich bin erlöst und mache mich auf den Weg in mein neues Zuhause.“ Er rannte aus dem Depot und durchquerte den Innenhof in Richtung Zugbrücke. Roderich in seinem ungewohnten Anzug hatte Mühe, ihm zu folgen. Mit Entsetzen sah er, dass der Alte sich von der Brücke aus kopfüber in den Burg­graben stürzte, wo die Krokodile lauerten. Weil er unbedingt Gewissheit haben musste, wagte Roderich schließlich den Blick hinunter in den Graben. Zu seinem Erstaunen sah er, dass die Krokodile seinen Vorgänger keinesfalls in Stücke ris­sen und auffraßen, sondern ihn so lange mit ihren Tränen benetzten, bis auch er sich in ein Krokodil verwandelt hatte. Seufzend stellte Roderich fest, dass eine unsichtbare Macht ihn davon abhielt, die Flucht ins Alpenvorland anzutreten. Er fügte sich in sein Schicksal, kehrt zurück in sein Schloss und suchte wiederum das Leuchtmitteldepot auf, um sich noch einen Kandelaber voll Champagner zu gönnen, damit die Enge seines Anzugs, wenigstens so gut es ging, gemildert wur­de.

Michael, 10. November 2023

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