Versuchung

„Fred!“, rief Jenny und winkte und wiederholte: „Fred!“

„Leise!“, zischte Fred und trat aus dem Durchgang hinaus auf den Gehsteig. „Wir sind anonyme Alkoholiker.“

„Ich wollte bloß sehen, ob du dich traust.“

Er hielt ihrem Blick stand. „Wie schon gesagt: Anonym.“

Fred bemerkte, dass Jenny bauchfrei unterwegs war und in dem ultrakurzen Rock, mit dem sie ihn früher um den Verstand gebracht hatte.

„Wir müssen feiern, dass du es geschafft hast.“

Sie zauberte aus ihrer Handtasche eine Piccoloflasche Champagner hervor.

„Spinnst du?“, rief Fred. „Genau deswegen bin ich doch hier!“

„Es ist doch bloß eine kleine Flasche“, sagte Jenny. „Unsere Marke. Wie früher.“

Fred sah sie eindringlich an, ehe er sich einen Ruck gab. „Also gut. Leeren wir einen Piccolo und denken an die guten alten Zeiten.“

Er nahm die kleine Flasche entgegen und ließ geschickt den Korken knallen, traf genau zwischen die beiden „A“ auf dem Schild, das über seinem Kopf an der Wand hing.

„Um Himmels Willen, nein!“, schrie Jenny, während Fred einen kräftigen Schluck aus der Flasche durch seine Kehle rinnen ließ. „Es sollte bloß ein Test sein, ob du stark genug bist, um zu widerstehen!“

„In dieser Flasche ist nur Wasser“, sagte Fred.

„Das macht doch keinen Unterschied!“, rief Jenny. „Du hast getrunken!“

Fred sah sie traurig an. „Ich habe es gewusst. Dein Bruder hat es mir verraten, dass du mit einer präparierten Flasche kommen wirst.“

„Dann sind wir quitt“, lächelte Jenny. „Und alles wird wie früher.“

Freds Mund wurde schmal und hart. „Nichts wird wie früher! Lass mich in Ruhe! Und zieh dir etwas Anständiges an, wenn du mir jemals wieder unter die Augen trittst!“

Er stellte die kleine Flasche auf den Bordstein und suchte das Weite, mit großen schnellen Schritten.

Michael, 17. November 2023

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