Rohrpost

Direktor Olaf Nagelsmann, der zusammen mit seiner Frau Henriette eine kleine Strumpf- und Wirkwarenfabrik leitete, die sie selbst aufgebaut hatten, fühlte sich in seiner Ehe grundsätzlich gut aufgehoben, was ihn aber nicht davon abhielt, gelegentlich amouröse Zerstreuung abseits der ausgetretenen ehelichen Pfade zu suchen. 

Als ihm das ständige abendliche Werben um verschwiegene junge Damen irgendwann zu anstrengend wurde, stellte er kurzerhand eine aparte französische Sekretärin ein, die er entsprechend instruierte und im Empfangsraum rechts neben dem Büro seiner Gattin Henriette unterbrachte, die sich in der kleinen Fabrik um die Finanzen kümmerte. 

Olaf Nagelsmanns eigenes Büro lag links neben dem seiner Gattin, was wiederum zur Folge hatte, dass er sich einer kleinen List bedienen musste, wenn er amouröse Zuneigung seitens der neuen Sekretärin, die Babette hieß, begehrte und einforderte, wovon die Gattin Henriette natürlich nichts mitbekommen sollte. 

Wenn er in seinem Büro geliebt werden wollte (was etwa alle zwei Wochen der Fall war), schickte Direktor Nagelsmann über die Rohrpost eine Piccoloflasche Champagner in den Empfangsraum zu Babette, die daraufhin Flasche, Stenoblock und Bleistift nahm und diskret ins Büro zu ihrem Chef hinüberschlich, um ihm zu geben, wonach es ihn verlangte.

Henriette Nagelsmann, die um die Tendenzen ihres Gatten nach gelegentlicher Abwechslung in Liebesangelegenheiten wusste, drückte ein Auge zu, solange sich die Abschweifungen Olafs auf das schon erwähnte Intervall von zwei Wochen begrenzten. Irgendwann hatte sie nämlich herausgefunden, dass genau in diesem Abstand ihr Mann jeweils eine kleine Piccoloflasche Champagner auf die Firma bestellte und auch aus der Firmenkasse bezahlte. Schließlich war Henriette auch aufgefallen, dass ebenfalls alle zwei Wochen die Rohrpostanlage, die eigentlich niemand mehr benutzte und die in die Decke eingemauert quer über ihr Büro lief, jedesmal die selben charakteristischen Geräusche verursachte, wenn nämlich der liebesbedürftige Olaf Champagner zu seiner französischen Sekretärin hinüberschickte. 

Zu all dem schwieg Henriette Nagelsmann und duldete es, bis eines Tages im Mai ihren Gatten heftige Frühlingsgefühle packten, was schließlich darin resultierte, dass er bis zu dreimal am Tag Piccoloflaschen über die Rohrpost zu Babette hinüberschickte. 

Henriette handelte entschlossen, machte ihrem Gatten eine kleine außertourliche Dienstreise zu einer Wirkwarenmesse schmackhaft, und ließ während seiner Abwesenheit einen Maurer ihres Vertrauens in ihrem Büro die Decke aufstemmen und die Rohrpostanlage mit Mörtel verstopfen. 

Als Direktor Nagelsmann nach der Rückkehr von seiner Dienstreise liebeshungrig die erste Piccoloflasche in eine Rohrpostbüchse steckte und losschickte, hörte er wenige Augenblicke später durchs Mauerwerk den Aufprall der Büchse auf die inzwischen harte Mörtelmasse über dem Büro seiner Gattin und ahnte gleich, dass etwas nicht stimmte, weil Babette seinem Büro fernblieb und nicht wie gewöhnlich mit Stenoblock, Bleistift und Champagner erschien und hinter sich im Schloss der Bürotür den Schlüssel herumdrehte. Als Olaf Nagelsmann dann auch noch in der Mittagspause in der Kantine das zufriedene Lächeln im Gesicht seiner Gattin bemerkte, mit der er aus alter Tradition gemeinsam speiste, wusste er, wer seine Pläne durchkreuzt hatte. 

Damit Henriette ihren kleinen Triumph nicht allzu sehr genoss, zwang auch Olaf sich zu einem Lächeln. Weil ihn aber immer noch heftige Frühlingsgefühle umtrieben, vertraute er sich nach Feierabend einem guten Freund an, dem er sein Problem schilderte und der ihm den Rat gab, sich doch die neuesten Errungenschaften der Technik zunutze zu machen. Rohrpostanlagen zum Transport von Champagnerflaschen seien zwar sehr solide und sicher, aber heutzutage gäbe es weitaus effizientere Methoden. 

Er rate ihm zu einem 3D-Drucker im Büro seiner Sekretärin, der in der Lage sei, nicht bloß die leere Flasche, sondern auch gleich den Inhalt, sprich den Champagner, auszudrucken. Diesen Vorgang könne er, Nagelsmann, selbstverständlich von seinem Büro aus im Empfangszimmer der Sekretärin auslösen. 

Nagelsmann griff den Vorschlag seines Freundes begeistert auf und bestellte einen entsprechenden Drucker für Babette, der umgehend geliefert wurde. 

Der Plan schien aufzugehen. Der Direktor setzte in seinem Büro an seinem Computer zum ersten Mal einen entsprechenden Druckauftrag ab, der drüben im Empfangsraum bei der Sekretärin den Drucker in Gang setzte und eine Piccoloflasche Champagner nebst Inhalt produzierte. 

Nicht nur Olafs Herz hüpfte vor Freude, als Babette wie früher mit Stenoblock, Bleistift und Champagner in sein Büro huschte und hinter sich abschloss. 

Als sie allerdings von dem ausgedruckten Champagner kosteten, bemerkten sie dessen ekelhaften Geschmack, der nicht bloß entfernt an Druckertinte erinnerte und der ihrer beider Libido binnen Sekunden auslöschte, was dazu führte, dass an diesem Tag alles Amouröse unterblieb, und Nagelsmann seiner Sekretärin zum ersten Mal etwas diktierte, nämlich einen geharnischten Beschwerdebrief an die Herstellerfirma des 3D-Druckers. 

In der Mittagspause bemerkte er im Gesicht seiner Gattin wieder jenes vielsagende Lächeln, das ihm signalisierte, dass Henriette auch diesmal bereits über das neuerliche Missgeschick Bescheid wusste. Erst viel später wurde dem Direktor klar, dass er den Drucker nicht über die Firma bestellen hätte sollen. 

Für Olaf Nagelsmann begann nun ein enthaltsamer Frühsommer, der ihn melancholisch und nachdenklich werden ließ. Um ein wenig Abstand von all dem zu gewinnen, fuhr er in der Folgezeit zum ersten Mal aus eigenem Antrieb auf eine weitere Wirkwarenmesse. 

Es half nichts. Die Sehnsucht nach dem Amourösen blieb stark. Als er irgendwann nach seiner Rückkehr voller Sentimentalität seufzend eine letzte Piccoloflasche Champagner in die Rohrpost steckte und auf den dumpfen Aufprall der Büchse über dem Büro seiner Gattin wartete, war er in hohem Maß erstaunt, dass dieses Geräusch ausblieb.

Etwa zwei Minuten später tauchte Babette mit Stenoblock, Bleistift und der kleinen Flasche in seinem Büro auf. Der Champagner schmeckte vorzüglich und auch das Amouröse geriet zu ihrer beider Zufriedenheit. Weil der Direktor Nagelsmann aber gelernt hatte, dass sie es nicht übertreiben durften, hielten sie sich von da an wieder an ein zweiwöchiges Intervall.  

Michael, 24. November 2023.

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