Antidepressivum

„Ist es nicht schrecklich“, sagte Mutter Helga zu ihren missmutig kauenden Zwillingstöchtern Thelma und Louise, „dass wir tagtäglich hier in aller Herrgottsfrühe in unserer viel zu kleinen Küche hocken und pappigen Porridge mampfen und dazu öde Hafermilch schlürfen?“

Thelma und Luise sahen Mutter Helga mitleidig an.

„Und dass ihr anschließend depressiv zur Bushaltestelle wankt, um von dort zur Schule zu fahren, wo man euch sinnlos mit Lernstoff vollstopft, den ihr zu Mittag bereits wieder vergessen habt?“

Luise erhob sich und riss den Kühlschrank auf.

„Wir haben aber nichts anderes zu essen und zu trinken, Mama. Außer dieser Magnumflasche Champagner, die der Versicherungsvertreter dir geschenkt hat, als er dich herumkriegen wollte.“

Mutter Helga strahlte.

„Das ist doch schon die halbe Miete. Wir brauchen drei Gläser.“

Thelma und Luise sahen ihre Mutter skeptisch an, als sie den Korken gegen den Dunstabzug knallen ließ. Nachdem sie die drei Gläser erstmalig gefüllt hatte, schoben die Töchter aber doch Breischüsseln und Milchtassen zur Seite und stießen mit Mutter Helga mit dem herrlich prickelnden Champagner auf die Großzügigkeit des Versicherungsvertreters an.

„Und dabei“, ergänzte Mutter Helga, weil es ihr wichtig war, „habe ich mich ihm nicht einmal hingeben müssen.“

Es blieb nicht bei dem einen Glas. Nach knapp vierzig Minuten hatten Mutter und Töchter die Magnumflasche komplett geleert.

Auch an diesem Tag wankten Thelma und Luise zur Bushaltestelle, allerdings nicht depressiv, sondern aufgekratzt und fröhlich, wenn auch viel zu spät. Sie verpassten die ersten beiden Unterrichtseinheiten.

In der dritten Stunde hatten sie Deutsch bei Holger Gabelstapler. Während der Stunde überzeugten die beiden Schwestern durch geistreiche und höchst niveauvolle Wortmeldungen, so dass sie von Gabelstapler ihren Mitschülerinnen am Ende als leuchtende Beispiele dafür herausgestellt wurden, wie hervorragende Unterrichtsbeiträge gestaltet sein sollten.

In der Folge gab es für Mutter Helga und ihre Töchter viele weitere Porridge- und Hafermilchtage. Einmal in der Woche spendierte Helga aber von da an auf ihre Kosten ein Champagnerfrühstück, was sie sich einigermaßen gut leisten konnte, da sie auch mit einer normalen Flasche das Auslangen fanden.

Michael, 1. Dezember 2023

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