Heidelberger tat etwas, was er noch nie zuvor getan hatte: Er stahl im Yachthafen von Moulin Blanc bei Brest ein Segelboot. Es hieß Madeleine IV.
Im Morgengrauen machte er die Leinen los, startete den Hilfsmotor und fuhr dann entlang der Mole hinaus in Richtung offene See, als sei er der Besitzer des Bootes und als sei dies ergo die selbstverständlichste Sache der Welt. Niemand schöpfte Verdacht. In den Hafen zurückkehrenden Fischern, die Heidelberger etwas in ihrem bretonischen Dialekt zuriefen, winkte er gekünstelt lachend und pfiff ihnen kurze Melodien.x
Bald hatte er den offenen Atlantik erreicht. Da er vom Navigieren und vom Segeln selbst weitestgehend unbeleckt war, musste er sich den Launen der Strömungen anvertrauen, nachdem er den Hilfsmotor ohne viel Feingefühl abgewürgt hatte. Dass er sich den Elementen überließ, machte ihm nichts aus, im Gegenteil, es gehörte in letzter Konsequenz zu seinem Entschluss, mit seinem bisherigen Leben zu brechen, das seiner Ansicht nach zuvor mit ihm gebrochen hatte.
Die Winde und Wellen meinten es gut mit Heidelberger und ließen ihn nicht allzu lange in seiner ungewissen und misslichen Lage. Sie spielten ein wenig mit ihm und spülten ihn mitsamt seinem Boot kurze Zeit später wieder an Land, nicht ans Festland, sondern auf eine kleine, karge, nicht kartographierte Insel im Atlantik.
Wie es auf derartigen Inseln die Regel ist, wurde Heidelberger bei seiner Ankunft am Strand bereits von einer attraktiven, nur spärlich bekleideten, sehr jungen Dame erwartet, die bei dem Neuankömmling sofort animalisch triebgesteuerte Paarungsinstinkte weckte. Zu alledem hielt die junge Schönheit auch noch eine Flasche Champagner und zwei Gläser in ihren Händen.
„Wo warst du bloß so lange, mein Retter?“, hauchte sie mit verführerischer Stimme und ließ ihr Strandkleid zu Boden sinken, unter dem sie nichts mehr trug. „Ich habe dich schon sehnsüchtig erwartet und verzehre mich nach deinen starken Armen.“
Heidelberger fing zu glühen an vor lauter Lust.
„Ich begehre dich genauso, meine Schöne“, säuselte er. „Wir sollten aber zuvor auf unsere Verschmelzung anstoßen.“
Die junge Schönheit reichte ihm den Champagner, den Heidelberger routiniert entkorkte. Die Nackte hielt ihm die Gläser hin. Heidelberger schenkte ein.
„Auf dein Wohl!“, rief er dann.
„Es ist das erste Mal“, antwortete die Schöne, „dass ich Champagner trinke.“
Irgendeine Instanz, die seine Triebe hierarchisch überlagerte, warnte Heidelberger vor dem, was sich gerade anbahnte. Plötzlich hatte er einen Geistesblitz.
„Zeig mir doch bitte deinen Personalausweis!“
Die Schöne rückte das Dokument ohne Widerspruch heraus. Erleichtert stellte er fest, dass die junge Frau bereits knapp über Zwanzig war. Dann las er plötzlich ihren Namen.
„Du heißt Kalypso? Kalypso Heidelberger?“
Die junge Fau nickte.
Und deine Mutter heißt Renate?“
Die Schöne nickte wieder.
„Renate Heidelberger ist meine lange verschollene Schwester. Du bist also meine Nichte, von deren Existenz ich zwar weiß, die ich aber noch nie zu Gesicht bekommen habe!“
Heidelberger spürte, wie seine Lust augenblicklich verflog. Er gab seiner Nichte ihren Ausweis zurück.
„Ich nehme dich mit aufs Festland. Auf Hinweise zu deinem Verbleib ist eine Belohnung ausgesetzt. Und zieh dir bitte etwas über!“
Kalypso streckte ihrem Onkel die Zunge heraus, fügte sich aber in das, worum er sie gebeten hatte.
Immerhin schenkte er ihr später einen beträchtlichen Teil der Belohnung, den er für ihre Auffindung eingestreift hatte.
Michael, 29. Dezember 2023.