Im Rahmen einer spiritistischen Seance gelang es uns, Napoleon Buonaparte herbeizurufen, obwohl wir uns eigentlich um Gilbert Becaud bemüht hatten. Wir fragten den Kaiser der Franzosen nach seinen aktuellen Lebensumständen.
Er lebe immer noch auf St. Helena, antwortete er, seit mittlerweile mehr 200 Jahren und er sei es langsam leid. Zwar sei er körperlich längst verstorben, wie allgemein bekannt sei, seine Seele spuke aber immer noch in Longwood House, in dem die Verpflegung noch schlechter geworden sei, seit er physisch nicht mehr anwesend sei. Gerade er als Geist müsse auf seine Ernährung achten. Das Krebsgeschwür in seinem Magen, das seinen sogenannten Tod verursacht hätte, plage ihn immer noch, auch wenn es ihn kein zweites Mal dahinraffen könne.
Wir fragten den Kaiser, was genau er mit seinem sogenannten Tod meine.
Er erklärte, dass das, was wir als seinen Tod bezeichneten, in Wirklichkeit bloß eine Modeerscheinung des 19. Jahrhunderts sei. In Wirklichkeit sei er, wie selbst jedes Schulkind wüsste, natürlich unsterblich. Der Umstand, dass er gerade mit uns spräche, sei ja wohl ein schlagender Beweis dafür. Es sei uns vielleicht nicht aufgefallen, argumentierte er, dass er sich die ganze Zeit hindurch, seit wir ihn gerufen hätten, mit uns in akzentfreiem Deutsch unterhalten hätte.
Jetzt, da es uns auffiel, zollten wir seiner Leistung Bewunderung und fragten ihn, wo er so gut Deutsch gelernt hätte.
Er habe ein Fernstudium absolviert, eröffnete uns Buonaparte, nicht nur in Deutsch, sondern auch in allen übrigen weltweit gängigen Sprachen. Er hätte ja in den vergangenen Jahren und Jahrhunderten ausreichend Zeit dafür gehabt.
Wir fragten Napoleon, was wir tun könnten, um seine Lage ein wenig zu erleichtern. Die Bereitstellung geeigneter, diätisch adäquater Lebensmittel und deren Verschiffung nach St. Helena stelle überhaupt kein Problem dar und könne schon am folgenden Tag beginnen.
Es gäbe etwas noch Dringenderes, sagte der Kaiser. Gilbert Becaud, den wir ursprünglich gerufen hätten, befände sich ebenfalls auf seiner, Buonapartes, Insel. Er ertrage seinen Gesang nicht länger, der sich täglich wiederhole und sich immer auf die selben Nummern beschränke.
Da könnten wir auch leicht helfen, erklärten wir. Wir könnten Becaud ordentlich schelten, wenn er, Napoleon, ihn uns an seiner Stelle herbeiriefe.
Das ließ Napoleon sich nicht zweimal sagen. Er verschwand auf der Stelle aus dem alten Röhrenradio, das wir für unsere Seance benutzten. Die neue Stimme, die aus dem Radio zu uns sprach, identifizierten wir tatsächlich als jene von Gilbert Becaud.
Als er sich bitter über den Banausen Napoleon beklagte, der von Musik keine Ahnung hätte, wussten wir dann aber nicht, was wir erwidern sollten und drehten aus lauter Verlegenheit solange an dem Suchknopf an dem Radio, bis der Bayerische Rundfunk uns mit fröhlich trivialem Geschwätz seiner Moderatoren und seiner unsäglich platten Musik schier erschlug.
Michael, 16. Februar 2024