It Ain’t Me, Babe

Ich war und bin ein katastrophaler Sänger. Als ich noch zur Schule ging, verspra­chen mir meine Musiklehrer von sich aus freiwillig um zwei Grade bessere Zensu­ren, wenn ich im Rahmen ihres Unterrichts meinen Mund hielte und bloß nicht sänge. Das hieß und heißt jedoch nicht, dass ich nicht gern Musik höre, im Ge­gen­teil, ich war und bin immer ein begeisterter Besucher von Livekonzerten.

An­fang der 90er, genauer gesagt am 7.2.1990 flog ich sogar einmal eigens nach Lon­don, um Bob Dylan im Hammersmith Odeon zu hören. Der Meister war sicher wie fast immer äußerst übel gelaunt, was vermutlich dran lag, dass er schon wieder ein Konzert spielen musste, statt gemütlich daheim oder im Hotel vor dem Fernseher zu lungern, Chips zu mampfen und sich einen Boxkampf anzusehen.

An diesem Abend hatte ich einen perfekten Platz in der Menge vor der Bühne ergattert und freute mich schon auf die seelenvolle Gesangsdarbietung des Bob Dylans, der auch irgendwann missmutig auf die Bühne schlurfte, sich auf einen Hocker setzte und sofort einschlief, was aber außer mir niemand bemerkte.

Es dauerte eine Weile, ehe ich begriff, dass für alle anderen die Zeit stehen geblieben war. Und plötzlich hörte ich eine unnachahmlich kratzige Stimme in meinem Kopf, die mich fragte, ob ich ihr einen Gefallen tun wolle.

„Wer um alles in der Welt bist du?“, rief ich, weil ich keine Erklärung dafür hatte, wer da in meinem Kopf her­umspukte.

„Ich bin der Geist von Bob Dylan“, sagte die Stimme. „Ich habe heute ab­solut keine Lust zu singen. Ich bin müde und würde so gern ein Weilchen schla­fen! Können wir nicht für die Dauer des Konzerts die Körper tauschen? Du übernimmst mit deinem Geist meinen Körper auf der Bühne und singst für mich, während ich hier in deinem Körper ein Nickerchen halte?“

„Aber ich kann doch überhaupt nicht singen!“, entgegnete ich.

„Bitte!“, flehte die Stimme in meinem Kopf. „Es eilt! Ich kann die Zeit nicht mehr lange anhalten.“

Seufzend willigte ich ein und befahl meinen Geist in Dylans Körper auf der Bühne, während sein Geist es sich in meinem Leib bequem machte. Schon wenige Wimpernschläge später nahm die Zeit ihren Betrieb wieder auf. Die Konzertbesucher und die Musiker auf der Bühne einschließlich Bob Dylans, in dem ja mein Geist steckte, erwachten aus ihrer Starre, von der sie nichts bemerkt hatten.

Ich entdeckte, dass auf dem Gestell der Mundharmonika eine Liste mit den fürs Konzert vorgesehenen Titeln angebracht war. Die beiden ersten Songs „To Be Alo­ne with You“ und „Most of the Time“ kannte ich leider nicht. Ich krächzte tap­fer mit der Band mit, so gut ich es eben vermochte.

Auch beim folgenden „All Along the Watchtower“, das mir immerhin geläufig war, gab ich mein Bestes, was ja nicht viel war. Da Dylans Körper meinen Anweisungen einigermaßen gehorch­te und seine Hände auf mein Kommando jeweils im richtigen Moment zu Gitarre oder Mundharmonika griffen, legte ich meine Nervosität allmählich ab und schum­melte mich mit meinen erbärmlichen gesanglichen Möglichkeiten durchs Konzert.

Als das Publikum bei den letzten beiden Nummern „It Ain’t Me, Babe“ und „Highway 61 Revisited“ immer noch vollzählig im Odeon vorhanden war, at­mete ich erleichtert auf, in dem Bewusstsein, dass ich es beinah geschafft hatte.

Ehe ich mich’s versah, klopfte Bob Dylans Geist nach dem Ende des Programms schon an seine Hirnschale, in der ich in Gestalt meines Geistes saß, bedankte sich knapp und gebot mir, wieder das Weite zu suchen und in meinen eigenen Körper zurückzukehren.

Als ich den Meister fragte, ob nicht wenigstens eine kleine fi­nan­zielle Vergütung für mich drinnen sei, zeigte er mir ungerührt einen Vogel und scheuchte meinen Geist ungerührt von der Bühne. Beleidigt nahm ich mei­nen Körper wieder in Besitz und trollte mich mit dem Vorsatz, dem undankbaren Bob Dylan nie wieder einen Gefallen zu erweisen. Ich kehrte zurück in mein Ho­tel.

Am nächsten Morgen sprang mir in der Daily Mail gleich die Konzertkritik ins Auge. „Dass Dylan nicht singen kann“, hieß es dort, „ist allseits bekannt. Dafür wird er geliebt und verehrt. Beim gestrigen Konzert im Hammersmith Odeon hat er sich selbst übertroffen. So falsch und schräg hat er bisher noch nie gesungen. Ein sensationeller Erfolg. Sein bisher bester Auftritt.“

Ich ließ mir vom Kellner eine Flasche Champagner an den Frühstückstisch bringen. Breit grinsend pros­tete ich meinen abwesenden Musiklehrern von früher zu, mochten die meisten von ihnen im Lauf der vielen Jahre seit meiner Schulzeit auch schon gestorben sein.

Michael, 8. März 2024

Ein Kommentar zu „It Ain’t Me, Babe

  1. Diese Deals von Lehrern waren offenbar weit verbreitet. Mein Schulfreund bekam von der Englischlehrerin ein „Ausreichend“ versprochen, wenn er dafür die restlichen drei Semester ihren Kurs abwählte. Das reichte ihm zur Versetzung und alle waren glücklich.

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