Der Verkehrspsychologe Knoblaucher, Spezialist für mysteriöse Fälle, wurde einmal zu einer Kreuzung gerufen, an der es nicht mit rechten Dingen zuging. Zahlreiche Auffahrunfälle hatten sich ereignet, weil Autofahrer abrupt vor Fußgängern abbremsen mussten, die plötzlich einen Zebrastreifen an der Kreuzung überquert hatten, obwohl die Fußgängerampel gerade Rot zeigte.
Die involvierten Fußgänger hatten übereinstimmend ausgesagt, dass in der Ampel ein Geist wohne, der ihnen befohlen hätte, augenblicklich auf die Fahrbahn zu springen, sobald die Ampel auf Blau wechselte. Der Geist, erklärten die Passanten, hätte so schaurig und furchterregend geklungen, dass sie seinen Anweisungen widerspruchslos Folge geleistet und die Straße überquert hätten, als sie auf der anderen Seite tatsächlich ein blaues Ampellicht wahrgenommen hätten.
Knoblaucher, der auch eine parapsychologische Zusatzausbildung genossen hatte, war mit allen Wassern gewaschen. Er ersetzte an dem betroffenen Ampelmast das rote Glas durch ein blaues, verbarg sich mit einem Megafon ausgerüstet hinter dem Schaltkasten und wartete auf die ersten Fußgänger, die an der Kreuzung die Straße überqueren wollten.
Im richtigen Moment sprach er ins Megafon: „Wenn Blau kommt, springt sofort auf die Fahrbahn, verstanden?“
Die Passanten gehorchten auf der Stelle und schossen auf den Zebrastreifen, als das blaue Licht kam. Zum Glück gab es keine weiteren Auffahrunfälle, da gerade keine Fahrzeuge die Kreuzung passierten. Knoblaucher fing die Fußgänger ab, nachdem sie die andere Seite erreicht hatten, zeigte ihnen Megafon und blaue Ersatzgläser und versuchte die Passanten davon zu überzeugen, dass es keine Ampelgeister gab und dass jemand sich einen Scherz erlaubt hatte. Er wiederholte die Prozedur Dutzende Male und bat die von ihm Belehrten, dass sie die Information an Freunde und Bekannte weitergaben.
Am späten Nachmittag, als er endlich müde und zufrieden wurde, tauschte er das blaue Glas wieder gegen das rote Original aus, und packte seine Sachen zusammen, damit er rechtzeitig von der Kreuzung wegkam, ehe der Feierabendverkehr einsetzte.
Als er gerade den Zebrastreifen überqueren wollte, um zurück auf jene Seite zu gelangen, auf der er seinen Wagen geparkt hatte, hörte er eine schaurige Stimme von der Ampel gegenüber: „Wenn Braun kommt, spring sofort auf die Fahrbahn, verstanden?“
Knoblaucher gehorchte widerspruchslos, sodass der Bugatti Chiron, der gerade auf den Zebrastreifen zufuhr, jäh bremste und von nachfolgenden Maybach 62 S gerammt wurde, auf den wiederum ein Bentley Flying Spur auffuhr.
Knoblauchers Versicherung weigerte sich, für die immensen Schäden aufzukommen. Unmittelbar bevor er seine Haft im Schuldturm antrat, fuhr er noch einmal an die Kreuzung, sägte den Ampelmast mit dem brauen Licht ab und warf ihn in einem nahegelegenen Kühlhaus, zu dem ein flüchtiger Bekannter ihm Zutritt verschaffte, in eine Kältekammer. Knoblaucher hatte den Eindruck, dass in letzter Sekunde ein Geist aus der Ampel fuhr und sich in Nichts auflöste.
„Sehr fein“, dachte Knoblaucher anschließend auf dem Weg zum Schuldturm. „Ein brauner Ampelgeist weniger.“
Michael, 22. März 2024