Ostergeister

Die Schwere des Karfreitags spürte er in seinen alten Knochen. „Hinabgestiegen in das Reich des Todes“ war er vor gefühlt langer Zeit. Theodor – zu Lebzeiten ein großartiger Organist – wusste nicht so recht, warum er in diesem Zwischenreich bleiben musste. Seelen kamen und gingen, nur er schien für immer zu bleiben. Zur Beichte regelmäßig gegangen, gespendet, sozial engagiert – konnte somit nur ein klassischer Irrtum sein. Charon bog an diesem Karfreitag mal wieder um die Ecke und fragte nach seinem Wohlbefinden. „Wie soll es mir schon gehen, Du greiser Fährmann“, antwortete er, „Rechtschaffen war ich, vorgesorgt habe ich und nun bin ich hier und komme nicht weiter“. Charon lächelte und meinte, dass er nicht der Erste wäre, dem dieses Schicksal beschieden war. Vor vierzehn Tagen hatte Theodor einen Verdacht, an wem das liegen könnte und fluchte. „Nur ein Wunsch, nur ein Wunsch“, murmelte er. Charon – wohl schon in österlicher Freude – fragte nach diesem Begehr. Und so war Theodor plötzlich für einen Karsamstag lang im Reich der Lebenden. Der Tag war jung und er ging zu jenem Friedhof, an dem er begraben wurde. Bereits nach einer Stunde Buddeln konnte er den Sarg öffnen und erschrak. Nicht nur, dass er schon etwas von seinem damaligen adretten Aussehen eingebüßt hatte, fehlten auch die zwei Golddukaten auf seinen Augenhöhlen wie er es in seinem Testament beschrieben hatte. Schnell das Grab mit einer Plane abgedeckt machte er sich auf den Weg zu seinem Wohnhaus, das nach seinem Tod der Musikausbildung gewidmet werden sollte, da neue Organisten nur schwer zu bekommen waren. In den frühen Morgenstunden war er dort angekommen und sah sich als Geisterwesen im Haus um, keine Orgeln, kein Hinweis auf eine Musikausbildung. Stattdessen fand er seinen nichtsnutzigen Neffen im Bett, neben ihm irgendeine Tussi. „Das reicht jetzt“, stellte er für sich fest. Als erstes ließ er die billige Gitarre, die an der Wand des Schlafzimmers montiert war, fallen. Dieses schreckhafte Erwachen der Beiden gefiel ihm als Ouvertüre ausgezeichnet. Bevor sie wieder einschlafen konnten, bewegt er den Lichtschalter auf und ab, was nun dazu führte, dass sie wie von der Tarantel gestochen die Treppe Richtung Wohnzimmer hinunterstürzten. Dort erwartete er sie mit einer Schallplatte von J.S. Bach und erfreute sich nicht nur am Orgelspiel. „Der Ostergeist ist zurück, ich hatte es vor zwei Wochen geträumt, dass er kommen würde, er holt uns“, schrie sein Neffe aufgelöst. Die Tussi hatte längst die Ausgangstür erreicht und rief auf der Straße hinunterlaufend nur mit einem Slip bekleidet zurück, dass er die restlichen Sachen getrost behalten könnte, sie würde nie wieder dieses Haus betreten. Im Wohnzimmer stand nun Theodor ganz allein und hörte das Orgelwerk. Er kniete und flehte um sein Leben. „Das war alles ein Fehler, ein furchtbares Missverständnis“, bedauerte er zutiefst. Theodor war zu Lebzeiten schon sehr gutmütig und stellte den Plattenspieler ab. Er ging zur Wand und schrieb mit dem roten Lippenstift der Tussi „Das ist deine letzte Chance“. Sein Neffe suchte sofort nach dem echten Testament und ging damit zum Notar. Das Wohnhaus wurde einem musikalischen Verein überschrieben, die das Orgelspiel nun professionell dort förderten. Die Goldmünzen waren zwar reduziert, aber der Neffe brachte zumindest zwei davon zum Grab. Er wunderte sich nicht einmal über die Plane. Als er gegangen war, legte Theodor die zwei Münzen in die Augenhöhle und blieb bis zur Mitternachtsstunde am Grab. Dann fand er sich am Ostersonntagmorgen wieder im Zwischenreich. Charon kam ans Flussufer und meinte, dass er nun einsteigen könnte. „Dann hast Du alter Haudegen endlich deinen Fuhrlohn erhalten“, freute sich Theodor. „Ach, das ist schon eine alte Geschichte, gar nicht mehr wahr. Die Christen fahre ich generell immer zum nächsten christlichen Feiertag hinüber“, antworte Charon spitzbübisch. Sein Neffe heiratete drei Jahre später eine begabte Organistin sogar kirchlich und fand sein Glück. Immer um die Osterzeit ließ er eine Messe für Theodor lesen. Als der Pfarrer ausführte „sonst wäre euer Glaube sinnlos“, nickte sein Neffe und wusste, dass die Auferstehung wahrhaftig war.  Und so war Theodors Osterausflug an jenem Karsamstag zumindest doch nicht ganz umsonst und Charon treibt immer noch seine Späßchen am Fluss. 

Harald, 29. März 2024.

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