Joachim, ein ewiger Junggeselle, suchte immer im Mai eine kleine Kapelle auf, um der Gottesmutter zu gedenken. Nicht tiefgläubig, aber spirituell veranlagt, hatte Joachim einen Zugang zu Maria gefunden. Still betete er in einer der kleinen Sitzreihen, als er hinter dem Muttergottes-Bild ein Räuspern vernahm. Er blickte auf und glaubte eine Hand zu erkennen. Joachim überlegte schnell, welche Wünsche er vorbringen könnte. Reichtum schien ihm zu banal, ewige Gesundheit zu langweilig und das Sehnen nach mehr Macht war zu kleinbürgerlich. Die Marienerscheinung trat indessen hinter dem Bild hervor und stand nun in zwei Meter Entfernung vor ihm. Mit „Mutter Gottes, ….“, eröffnete Joachim die Konversation. Maria machte eine Handbewegung, die er von seinem Vater kannte, immer wenn er etwas nicht richtig machte. „Entschuldigung…“, stammelte er nun. Maria ging auf ihn zu und er konnte den Blick nicht von ihr abwenden. Es schien, als kannte sie seine innersten Wünsche. Dass er nun in der Kapelle mit Maria schmuste, kam ihm so nicht im Mindesten merkwürdig vor. Da es nicht nur beim Küssen blieb, ging Joachim nach ungefähr fünfzehn Minuten davon aus, dass er nun der neue Josef und die Rückkehr des Gottessohnes nur eine Frage von Monaten wäre. Mit einem Kreuzzeichen verließ er glücklich die Kapelle. Nach einigen Tagen hätte er den Vorfall fast wieder vergessen, wäre er nicht beim Lesen des Pfarrbriefes hellhörig geworden. Die neue Mesnerin namens Anna schien der Maria wie aus dem Gesicht geschnitten. So machte er sich auf dem Weg zur Kirche, um die Mesnerin zur Rede zu stellen. Er traf sie in der Nähe des Altars und konnte ihr gar nicht böse sein. Es war wiederum wie eine Erscheinung. Sie erschrak und murmelte: „Josef, Du bist wieder zurück und erscheinst mir wieder“. „Ich erscheine nicht, sondern ich bin ganz normal bei Kirchentür hereingekommen“, antwortete Joachim. Nach kurzer Zeit war klar, dass Joachim Maria erschienen ist und Anna Josef. Ihr gemeinsames Kind tauften sie neun Monate später nicht Jesus, sondern Jonathan.
Harald, 03. Mai 2024.