Neues von der Vogelweide

Die wenigsten wissen, dass Walther von der Vogelweide einen jüngeren Bruder hatte, Axel von der Vogelweide. Axel war von Anfang an ein Tunichtgut, worunter die alleinerziehende Mutter der beiden Brüder, Glucka von der Vogelweide zeit ihres Lebens besonders litt.

Wenn die Mutter Walther zum Brunnen schickte, damit er dort Wasser holte, schlich Axel hinterher und tauchte von hinten Walt­hers Kopf in den flachen hölzernen Zuber, dass das Wasser nur so wegspritzte und Walther vor Schreck den Zuber fallen ließ und den Weg zum Brunnen noch einmal antreten musste.

Erledigte Walther gewissenhaft seine Hausaufgaben, indem er unermüdlich erste Minnegesänge zu Pergament brachte, sang Axel lautstark und falsch schlüpfrige Choräle, die er beim verbotenen Streunen durch die Katakomben heimlich aufgeschnappt hatte. Dies tat er absichtlich, um seinen Bruder aus der Konzentration zu bringen. Seine eigenen Hausaufgaben erledigte Axel so gut wie nie.

Wollte Walther seine Fertigkeiten auf der Laute perfektio­nie­ren, zwickte Axel mehr als einmal mit einer Zange vorher alle Saiten durch. Die ständigen Ermahnungen der Mutter schlug er achtlos in den Wind.

Eines Nachts beschloss Axel, seinem Bruder einen weiteren Streich zu spielen, bei dem auch die ständig nörgelnde Mutter Glucka schlecht wegkommen sollte. Er zog sich ein Bettlaken über den Kopf, schnitt zwei Gucklöcher aus und begann kurz nach Mit­ternacht mit schauriger Stimme in Walthers Zimmer zu spuken.

„Wach auf, Walt­her, deine Mutter ist gestorben, und ich bin ihr Geist, der deinetwegen keine Ru­he findet!“

Diesen Satz wiederholte er immer lauter werdend, begleitet von irrem Gelächter, bis Walther, der einen gesunden Schlaf hatte, endlich erwachte und sich fürchterlich erschrak.

Womit Axel nicht gerechnet hatte, war, dass auch die Mutter von dem schaurigen Gewimmer im Bett hochfuhr.

Diesmal hatte ihr jün­gerer Sohn den Bogen deutlich überspannt. Glucka von der Vogelweide sprang auf das Gespenst mit dem Laken zu und wuchete Axel mit ihrem ganzen Körper­gewicht zu Boden. Danach zog sie ihm beide Ohren lang und ließ sie bis zum Mor­gengrauen nicht mehr los.

Axel, der hoffte, dass sich der Zorn seiner Mutter bald legen würde, wurde diesmal eines für ihn Schlimmeren belehrt. Glucka von der Vogelweide schleifte ihren missratenen Sohn vor den Dorfrichter, schilderte ihm, was vorgefallen war, und bat ihn um eine gerechte Strafe.

Der Dorfrichter dachte lange nach, ehe er das Wort an Axel richtete und folgendes Urteil verkün­dete: „Du hast deine Mutter verleugnet und sie für tot erklärt. Deshalb sollst du nicht mehr länger ihren Namen tragen. Von nun an heißt du Axel von der Vogel­scheiße und jedermann im Dorf ist angehalten, dich so zu nennen.“

Unter seinem neuen Namen driftete Axel von der Vogelscheiße rasch immer weiter ins Abseits, während sein Bruder Walther allmählich durchstartete und eine fast europaweite Karriere als Minneidol hinlegte.

Axel von der Vogelscheiße wäre wohl sogar gänz­lich in Vergessenheit geraten, wenn nicht neulich ein Historikerteam bei der Frei­legung einer mittelalterlichen Burglatrine eine ausgezeichnet erhaltene, bedruck­te Rolle Toilettenpergament gefunden hätte, auf der Axels Name mehrmals expli­zit erwähnt ist.

Michael, 17. Mai 2024

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