Zeitgeist

„Das scheint wohl der Zeitgeist zu sein“, resümierte Anton seinen langen philosophischen Ausführungen zum Thema social media, die eher an eine Predigt erinnerten. Anton analysierte treffend scharf, zeigte die dort so gut wie ausnahmslos herrschende Kleingeistigkeit, Oberflächlichkeit, Dummheit und Gehässigkeit gekonnt auf. Das Publikum hing ihm an den Lippen, gaben ihm recht, applaudierten heftig. Der Saal war bis zum letzten Platz gefüllt, Menschen standen auch an den Rändern, ein durchschlagender Erfolg. Anton stand noch für Fragen zur Verfügung, an dem Abend, an dem er wusste, dass sein ganzer Einsatz sich bezahlt gemacht hatte. Hoch zufrieden ging er kurz vor Mitternacht auf die menschenleere Straße und machte sich auf den Heimweg. Nach nur zwei Minuten kam ihm eine Gestalt entgegen, grauer Hut, langer Mantel, sah aus wie ein Zeitdieb aus Momo. „Gestatten“, sprach er Anton an, „ich bin der Zeitgeist“. „Tut mir leid, der heutige Vortrag ist schon beendet, sie können sich für den nächsten anmelden. Die Termine finden sie auf Visagelivre“, antwortete Anton bereits etwas müde. Der Zeitgeist hielt Anton kurz am Arm fest. „Bürschchen, hier geblieben“, befahl er und Anton konnte sich nicht widersetzen. „Ich bin für alles verantwortlich“, fuhr der Zeitgeist fort, „im 19. Jahrhundert für die französische Revolution, im 20. Jahrhundert für beide Weltkriege und jetzt im 21. Jahrhundert muss ich auch noch für den social media – Scheiß herhalten“. „Das tut mir aufrichtig leid“, meinte Anton mitfühlend. „Aber es ist nun einmal der Zeitgeist, der dazu führt“, fing sich Anton wieder. „Nein, es seid ihr Menschen und nicht der Zeitgeist“, polterte er nun zurück. Anton überlegte und versuchte ernsthaft, für den Zeitgeist eine Lösung zu finden. „Ziehe dich für dein Jahr zurück und wir analysieren das Ergebnis“, schlug Anton vor. Der Zeitgeist war einverstanden. Anton hatte schon nach kurzer Zeit nach der Begegnung mit dem Zeitgeist etwas Langeweile verspürt. Alles schien auf dieser Welt so zu bleiben, wie es war. Keine spannende Mode, keine weltbewegenden Erfindungen und selbst diese seltsame Körper- und Selbstoptimierung schien plötzlich zu bleiben. Anton befürchtete, dass er dem Zeitgeist unrecht tat. Ein halbes Jahr später entwickelten die ersten Menschen einen neuen Zugang und gingen ihrer Bestimmung, die sie im Innersten wohl entdeckten, energisch nach. Radfahrer in Jeans mit lachendem Gesicht auf Fahrrädern aus den 50er – Jahren, Kleidungsfarben, die nie einen Modetrend auslösen konnten und immer mehr Abmeldungen vom socialmedia-Getöns waren die Folge. Als das Jahr vergangen war, kam der Zeitgeist wieder zu Anton zurück. Anton wählte dafür dieselbe Straße, um ihm die Zusammenkunft möglichst einfach zu gestalten. Siegessicher eröffnete der Zeitgeist: „Und, siehst Du jetzt, dass ihr Menschen das Problem seid?“ „Nein, lieber Zeitgeist, im Gegenteil“, konterte Anton. „Schau Dir die Menschen auf den Straßen an, individuell, glücklich, so viel Lebensfreude, keine Unsicherheit durch notwendige Anpassungen an deine Einbildungen, kostet ja gleich auch viel weniger“, machte Anton eine ausladende Armbewegung auf die Umgebung. „Ja, aber wo bleibt die Veränderung?“, frage der Zeitgeist. „Die Veränderung“, wurde Anton philosophisch, „braucht keinen Zeitgeist, die Veränderung tragen wir alle in uns“. Und so verschwand der Zeitgeist und die Welt atmete auf.

Harald, 24. Mai 2024.

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