Mein Über-Ich ist eine Sau

„Doktor“, sagte ich zu meinem Psychotherapeuten, „Sie müssen mir helfen. Mein Über-Ich ist abgehauen.“

„Oh je“, seufzte der Doktor, „Derartiges kommt gele­gent­lich vor, gar nicht allzu selten. Aber es wird schwierig, es wiederzufinden. Es kann überall sein.“

„Ich habe eine seltsame Textnachricht bekommen“, sagte ich. „Ohne Nummer, ohne Namen. Der Inhalt lautet: Tschüss, du Loser, ich lebe jetzt als freier Geist in den Loferer und Leoganger Steinbergen.“

„Hm, hm“, machte Dok­tor Eisvogel, „die Nachricht wird wohl von Ihrem Über-Ich sein. Immerhin eine Spur.“

„Wir fahren sofort hin!“, rief ich. „Es sind bloß 100 Quadratkilometer, die wir durchkämmen müssen. Ein Klacks!“

„Wir?“, wiederholte Dr. Eisvogel zögernd. „Ich bin Therapeut, kein Seelenfänger!“

„Ach, kommen Sie, Doktor!“, ermun­terte ich ihn. „Ich brauche Sie, um mein Über-Ich anzulocken. Wir haben keine Zeit zu verlieren. Ich besitze das passende Fahrzeug, um uns hinzubringen.“

„So?“, fragte der Doktor. „Davon haben Sie mir noch nie erzählt. Was ist es denn?“

„Ein Mase­rati MC20“, erklärte ich stolz. „Eine noch weiter aufgemotzte Spezialversion aus der sogenannten Undertaker-Serie. Hat soviel PS, dass sie meinen Zulassungsschein verbreitern mussten, um die Zahl unterzubringen.“

„Dann komme ich natürlich mit Freu­den mit!“, strahl­te der Doktor.

Die Freude verging ihm allerdings schnell, als wir dann auf der Straße waren.

„Sie fahren ja wie eine gesengte Sau!“, stöhnte der Doktor gequält, als er mitbekam, wie kreativ ich Verkehrs- und Geschwindig­keits­regeln auslegte. „Wie der leibhaftige Mörderhenker. Völlig skrupellos!“

„Ich habe ja im Augen­blick auch kein Über-Ich“, sagte ich, „das mich einbremst. Außer­dem haben wir keine Zeit zu verlieren.“

Als ich schließlich im Ortsgebiet auf 2 Rädern ein Dutzend LKW auf einem engen Radweg rechts überholte, schmiss der Doktor die Nerven weg, fing an zu weinen und sagte, dass er aussteigen wolle.

Sein Wunsch wurde schneller erfüllt, als mir lieb war. Die ganze Zeit hatte ich alle Zivil­strei­fen, die uns gefolgt waren, erfolgreich abgehängt und auch den Hubschrau­ber, der bald über uns kreiste, geflissentlich ignoriert.

Als ich jedoch vor uns eine Panzersperre entdeck­te, hielt ich es doch für ratsam, voll in die Eisen zu treten und meinen geliebten MC20 zum Stillstand zu bringen. Es ging gerade noch gut.

Oberst Wakolbinger, der den Einsatz leitete und der mich in der Vergangenheit schon einige Male verhaftet hatte, wollte mich diesmal persönlich zur Schnecke machen. Er pflanzte sich neben meinem qualmenden Gefährt auf und wies mich mit einer gebieterischen Handbewegung an, das Fenster herunterzulassen.

Ich deutete auf meine Rolex und machte ebenfalls eine Geste mit den Händen, die meine große Eile signalisieren sollte. Wakolbinger schoss mit seinem Dienstcolt warnend in die Luft.

„Lassen Sie das Fenster lieber herunter“, bettelte Dr. Eisvo­gel neben mir. „Wir haben unseren Spaß gehabt.“

Er hielt mir seinen Ausweis hin. Seufzend legte ich meinen Führerschein dazu, ließ das Fenster sinken und streckte Wakolbinger die Dokumente entgegen.

„Diesmal“, knurrte er genüsslich, „werden wir euch wochenlang einbuchten, dich und dein wahnsinniges Gefährt. Für dich haben wir eine winzige Isolierzelle reserviert und dein Geschoss stecken wir in eine Zwangsgarage. Nicht einmal dein Beifahrer kommt ungeschoren da­von. Wie heißt er eigentlich?“

Er besah sich den Ausweis meines Therapeuten.

„Dr. Eisvogel?“, rief Wakolbinger dann verblüfft. „Der Dr. Eisvogel?“

Mein The­rapeut nickte.

„Das ändert alles!“, sagte Wakolbinger zu meinem Beifahrer und salutierte. „Meine Frau ist schon seit Jahren erfolgreich bei Ihnen in Behandlung. Entschuldigen Sie die Störung. Sie können gleich weiterfahren. Ich lasse die Sper­re sofort wegräumen. Können wir Ihnen mit unseren bescheidenen Mitteln noch irgendwie behilflich sein, damit Sie noch schneller an Ihr Ziel gelangen?“

Dr. Eis­vogel nickte und deutete auf mich. „Wir suchen sein Über-Ich. Es ist abgehauen und treibt sich wahrscheinlich in den Loferer und Leoganger Steinbergen he­rum.“

„Dann nehmen wir besser den Hubschrauber“, schlug Wakolbinger vor. „Steigen wir gleich um!“

Das ließen Dr. Eisvogel und ich uns nicht zweimal sagen. Wir lie­ßen den Maserati stehen. Schon wenige Minuten später waren wir in der Luft.

„Ir­gendeine Idee“, brüllte Wakolbinger, um den Lärm zu übertönen, „wie das gesuchte Objekt aussieht?“

„Dem Fahrstil und dem Charakter meines Klienten nach zu schließen“, gab mein Therapeut zurück, „würde ich auf ein weibliches Hausschwein tippen. Mein Klient fährt ja wie eine gesengte Sau und benimmt sich auch ganz generell wie eine solche.“

Wakolbinger nickte und gab die Infor­ma­tion an die Kollegen vom Polizeifunk weiter. Schon wenige Minuten später erhellte sich seine Miene.

„Wir haben etwas! Auf einer Alm am Birnhorn hat ein Senner die Sichtung eines transparenten Mangalitzaschweins gemeldet. Die Kol­legen vor Ort haben seine Aussage aufgenommen. Der Senner schwört, dass er nie wieder so viel saufen will.“

„Bingo!“, rief ich stolz. „Mein Über-Ich!“

„Fliegen wir hin!“, sagte Dr. Eisvogel.

Der Oberst gab dem Piloten entsprechende Anwei­sungen. Wir flogen direkt zur Niedergrub am Birnhorn.

„Da unten!“, rief ich plötzlich aufge­regt. „Da wälzt sich ein riesiges durchsichtiges Tier auf dem Almboden. Es ist eine Mangalitzasau. Wir sind am Ziel!“

Der Pilot setzte in einigen hundert Metern Ent­fernung zur Landung an.

Ohne den Stillstand der Rotorblätter abzuwarten, sprangen Wakolbinger, der Doktor und ich aus dem Hubschrauber und sprinte­ten hinüber zu der durchsichtigen Sau.

„Liebes Über-Ich“, bettelte ich demütig und fiel auf die Knie. „Sei mir nicht mehr böse und komm doch bitte mit zurück in die Stadt!“

Die Sau würdigte mich keines Blickes, sondern drehte sich ostenta­tiv von mir weg.

„Was soll ich bloß tun, Doktor?“, sagte ich verzweifelt. „Mein Über-Ich will mich nicht mehr.“

Dr. Eisvogel klopfte mir aufmunternd auf die Schulter. „Nun werde doch ich mein Glück versuchen.“

Er pflanzte sich vor der Sau auf und fing plötzlich leidenschaftlich und äußerst abwechslungsreich zu grunzen an. Wakolbinger und ich staunten die sprichwörtlichen Bauklötze.

Nach wenigen Minuten stand die Sau plötzlich auf, sah mich mit klarem, festem Blick an und rannte direkt auf mich zu. Im letzten Augenblick machte sie einen Satz, landete auf meinem Kopf, drang in mein Gehirn ein und nahm als mein geliebtes Über-Ich seinen alten Platz ein.

„Danke, Doktor!“, rief ich überschwänglich. „Dan­ke, danke, danke! Wie haben Sie das bloß hinbekommen? Was haben Sie der Sau gesagt?“

„Kleinigkeit“, erwiderte Dr. Eisvogel, „ich habe Ihrem Über-Ich ge­grunzt, dass Sie sich auch ohne seine Hilfe aufführen wie ein Schwein und dass es sich wieder ganz entspannt in Ihrem Kopf einnisten und es sich dort bequem ma­chen könne. Sie würden es schrecklich vermissen.“

Ich hauchte meinem Thera­peuten einen Dankeskuss auf die Stirn.

„Fliegen wir zurück“, sagte der Oberst Wa­kolbinger knapp, „damit der Irrsinn ein Ende hat.“

Wir kehrten zum Helikopter zu­rück und stiegen ein. Der Oberst setzte uns an der Stelle ab, an der wir meinen Maserati zurückgelassen hatten.

„Da haben Sie noch einmal Schwein gehabt“, sagte Dr. Eisvogel, nachdem die Einsatzkräfte abgezogen waren.

„Fahren wir zu­rück in die Stadt“, erwiderte ich.

Dr. Eisvogel winkte entsetzt ab und eröffnete mir, dass er lieber zu Fuß gehen wolle als sich noch einmal in meinen Maserati zu setzen.

„Auch gut“, sagte ich achselzuckend. Ich schenkte dem Doktor spontan meine Rolex, damit er auf dem langen Rückweg stets im Bilde war, welche Stunde ihm gerade geschlagen hatte.

Michael, 28. Juni 2024

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