Ich bin ein älterer Mensch, ich habe Füße, wie die meisten älteren Menschen, zwei Füße, zwei ältere Füße, zwei große ältere Füße, zwei große ältere platte Füße. Und einen Fußgeist. Ein Fluss hat einen Flussgeist, und weil ich kein Fluss bin, habe ich keinen Flussgeist, sondern einen Fußgeist.
„Deine Füße sind so platt, weil du als Kind deine Einlagen nicht getragen hast“, sagt mein Fußgeist. „Das war ein schwerer Fehler. Dafür musst du jetzt büßen.“
Ich ignoriere, was er sagt, und starre durch ihn hindurch.
„Deine Füße werden auch immer größer“, sagt mein Fußgeist auch manchmal, und er sagt es immer genau dann, wenn ich mich gerade entschlossen habe, mir neue Schuhe zu kaufen. „Das wird wieder ein Affenzirkus.“
Ich betrete das Schuhgeschäft und achte darauf, dass ich mit meinen Füßen nicht am Türrahmen hängen bleibe. Mein Fußgeist schwebt unauffällig neben mir her.
„Kann ich Ihnen helfen?“, säuselt die Schuhverkäuferin, und ich vermute, dass es sich seit Jahren um die selbe Person handelt.
Leider kann ich mir keine Gesichter merken.
„Ja, gern“, erwidere ich. „Ich hätte gern ein Paar Schuhe.“
Und damit es irgendwie locker klingt, füge ich noch hinzu: „Am besten neue, wenn’s geht.“
Dann lacht die Schuhverkäuferin meckernd und bleckt dabei ihre Zähne, in deren Reihen schon dramatisch viele Ausfälle zu verzeichnen sind. Weil es bei den vergangenen Malen genauso war, bin ich mir jetzt sicher, dass es immer die selbe Verkäuferin ist.
„Gern“, säuselt sie. „Welche Größe?“
„Einen Zehner wie beim letzten Mal“, sage ich betrübt, weil ich mich daran erinnere, dass es beim vorletzten Mal noch ein Neuner war und davor ein Achter. Sie zeigt mir einige Modelle in Größe zehn.
Ich wähle wie immer schlichte schwarze Schuhe ohne Schnickschnack und nehme Platz, um sie anzuprobieren. Nachdem ich in die Schuhe geschlüpft bin, drückt die Verkäuferin unbarmherzig auf meinen Zehen herum.
„Uh, das ist aber eng! Da müssen wir aber schon einen Elfer nehmen, gell?“
„Wo soll das bloß hinführen?“, seufze ich und raufe mir theatralisch die Haare.
Die Verkäuferin zuckt bedauernd die Achseln. „Tja, das kommt eben mit dem Alter.“
„In zweiundsechzig Jahren sind die Füße dann so groß“, sagt mein Fußgeist so, dass es auch die Verkäuferin hören kann, „dass sie zwangsläufig im Türrahmen hängen bleiben. Ich habe es nachgemessen.“
Die Verkäuferin ist irritiert, weil sie glaubt, dass ich gesprochen habe, obwohl ich meine Lippen gar nicht bewegt habe. „Was haben Sie gesagt?“
„Nichts, nichts“, murmle ich. „Ich führe gelegentlich Selbstgespräche. Geben Sie mir also bitte den Elfer!“
„Sehr wohl!“
Draußen vor dem Geschäft stelle ich meinen Fußgeist zur Rede. „Warum tust du das? In zweiundsechzig Jahren bin ich doch schon längst tot!“
„Ich aber nicht!“, lacht mein Geist ausweichend, „Ich habe dann schon längst einen neuen Schützling bekommen.“
„Vielleicht“, sage ich, „werde ich ja wiedergeboren und du bekommst wieder mich!“
„Das kann schon sein“, sagt mein Fußgeist. „Du wirst dich aber nicht an mich erinnern.“
„Ein Glück“, murmle ich. „Ein großes Glück!“
„Ich hoffe ja“, sagt mein Fußgeist, „dass du in deinem nächsten Leben wenigstens deine Einlagen tragen wirst.“
Ich lasse ihm das letzte Wort und genieße schweigend die ersten Schritte in meinen neuen Elfern, die hervorragend passen.
Michael, 12. Juli 2024