Eine Zeitlang stellte ich mich gern auf Autobahnbrücken und warf Socken auf die Fahrbahn. Wenn Autofahrer dann abrupt abbremsten, sich auf den Pannenstreifen einordneten und anhielten, um sich zu vergewissern, was sie gerade überfahren hatten, trat ich auf den Plan, rannte hinunter und bezichtigte die Fahrzeuglenker des Sockenmordes.
In den meisten Fällen lief es dann dergestalt ab, dass die von mir Gestellten sich von mir einschüchtern ließen und mir ein paar Euro als Entschädigung anboten, die ich wiederum in die Anschaffung neuer Socken investierte.
Als ich einmal oben von auf der Brücke einen Rolls Royce Silver Shadow herannahen sah, witterte ich meine große Chance und warf eine blutrote Herrensocke in Übergröße hinunter auf die Fahrbahn.
Mein Kalkül ging auf. Die wuchtige Limousine überfuhr die Socke, bremste ab, blinkte und hielt auf dem Pannenstreifen. In der Hoffnung auf eine fürstliche Entschädigung sprintete ich hinunter zur Autobahn und näherte mich dem Rolls. Die Tür des Fahrzeugs öffnete sich ungewöhnlich langsam.
Als ich sah, dass eine silbern glänzende, leicht durchsichtig anmutende Gestalt in einer Kutte ausstieg, lief mir ein erster Schauer über den Rücken. Der Unbekannte kam mit schwankenden Schritten direkt auf mich zu und stellte sich mir mit verschränkten Armen, die bloß Knochen waren, entgegen.
Als ich Blickkontakt zu meinem vermeintlichen Opfer suchte, bemerkte ich, dass ich einen Totenschädel ansah.
„Um Himmels Willen, wer sind Sie?“, rief ich entsetzt.
„Ich hasse blutrote Socken in Übergröße auf der Fahrbahn, wenn ich unterwegs bin“, erwiderte das silberne Gerippe, „in meinem Rolls Royce Silver Shadow. Ich bin der Silver Shadow.“
Ich schluckte den Kloß in meinem Hals hinunter und änderte meinen ursprünglichen Plan, der darin bestanden hatte, dass ich eine üppige finanzielle Kompensation für das Überfahren meiner blutroten Socke verlangen wollte.
„Ich bitte recht schön um eine kleine Abgeltung für den Tod meiner Socke, die mir irrtümlich oben auf der Brücke aus der Hand gerutscht ist“, wisperte ich, „um ein winziges Scherflein bloß, nicht mehr als ein Almosen.“
Begleitet von einem grimmigen Knacken seines Kiefers zog der Silver Shadow seine Kutte über den Kopf, wendete ihre blutrote Innenseite nach außen und stülpte sie mir blitzschnell über meinen Körper. „Da hast du deine Socke zurück!“
Mehr nahm ich nicht mehr wahr, da sich das Kleidungsstück so eng um meinen Körper zusammenzog, dass ich mich nicht mehr rühren konnte, mir die Luft wegblieb und die Sinne schwanden.
Erst Stunden später wurde ich von einer Patrouille der Autobahnmeisterei aus meiner misslichen Lage befreit. Die Fragen der Herren, was mir zugestoßen wäre, beantwortete ich nicht.
Seit jenem Tag habe ich nie wieder Socken von Autobahnbrücken geworfen. Ich verdiene mein Geld jetzt wieder damit, dass ich Seniorinnen an der Haustür Heizdecken aufschwatze. Das ist weitaus weniger gefährlich.
Michael, 2. August 2024