Ich war nun seit fast zwanzig Jahren Witwer und erreichte in Kürze meinen 80. Geburtstag. Bis auf wenige, kurze Ausnahmen war ich seither beziehungslos. Mein privater wie beruflicher Antrieb glich einem ausrangierten Flugzeug, dass dazu verdammt war, für immer am Boden zu bleiben. Mein Holzhaus spiegelte diese Stimmung sehr gut und war im besten Falle als renovierungsbedürftig zu bezeichnen. Selbst meine aufgeweckten Enkelkinder erheiterten mich nur an wenigen Tagen. Diesen Sommer wachte ich plötzlich in der Nacht auf, da ich glaubte, am Dachboden Schritte zu hören. Nächsten Morgen nach dem Frühstück, die Schritte hatten mir keine Ruhe gelassen, ging ich in den Dachboden. Staub hatte sich über vieles gelegt und ich bemerkte zunächst nichts Ungewöhnliches. Als ich gerade mich umdrehen und die Ausziehtreppe wieder abwärts gehen wollte, erblickte ich einen Tisch mit zwei Stühlen, die ich zuvor noch nie wahrgenommen hatte. In meinem Alter sah ich schon so manche Gespenster und glaubte, dass mich hier wohl mein Gedächtnis wieder mal im Stich lies. Ich konnte mich beim besten Willen nicht darin erinnern, dass ich einen Tisch mit zwei Stühlen in den Dachboden geschleppt hätte. Egal, ich machte mich auf den Weg nach unten. In der nächsten Nacht hörte ich wiederum Schritte im Dachboden und fasste nun allen Mut zusammen, um sofort nachzusehen. Im Dachboden angekommen, schaltete ich die alte Lampe ein, die mehr Schatten als Licht erzeugte. Da sah ich sie das erste Mal. Sie saß am Stuhl und am Tisch stand eine goldene Vase mit getrockneten Lampionpflanzen in ungewöhnlichen Lilafarben. Ich grüßte, sie drehte sich um, kam unbekleidet auf mich zu und umarmte mich in einer Art und Weise, als würden wir uns schon ewig kennen. Mein Liebesleben hatte sich nun völlig geändert. Jeden Tag traf ich meine wunderschöne junge Geliebte am Dachboden für eine Stunde, anfangs gegen Mitternacht, danach verschwand sie. Da mir das zu beschwerlich wurde, einigten wir uns auf 19.30 Uhr und konnten beide damit gut leben. Natürlich recherchierte ich, wer diese junge Dame auf meinem Dachboden sein konnte und glaubte zu wissen, dass es sich um den Geist von Walburga „Dolly“ Österreich handelte, die in einen der bizarrsten Skandale der Weltgeschichte ihren Liebhaber am Dachboden versteckte. Ich war seit diesem Zeitpunkt immer gut gelaunt, kümmerte mich um mein Haus und nahm sogar an der abendlichen Geburtstagsfeier meines Enkels teil, der gerade erst 18 wurde. In seiner jungendlichen Neugier nahm er mich dort zur Seite und fragte, wann ich das letzte Mal Sex gehabt hatte. Ich antworte: „So um 1957“. „Oh, das ist aber lange her“, schaute mich mein Enkel mitleidig an und hätte ja eigentlich recht gehabt. So aber blickte ich schmunzelnd auf die Uhr: „Wieso, es ist doch erst 20.45 Uhr!“
Harald, 2. August 2024.