Einmal setzte Bulgari, der ein seltsamer Kauz war, sich an einem Sonntagvormittag aufs Vordach der St. Lorenz Basilika und lauerte auf einen kirchlichen Würdenträger. Als wenig später ein Kaplan im Talar aus dem Gotteshaus ins Freie trat, sprang Bulgari ihm von oben ins Genick und wuchtete ihn zu Boden.
„Los!“, rief Bulgari. „Du bist doch ein Geistlicher! Ich will ihn sehen, deinen Geist! Sofort!“
„Vade retro, Satanas!“, erwiderte der Kaplan instinktiv und rang erst danach um seine Fassung, die er nur mühsam wiedererlangte.
„Das wird nicht einfach sein“, seufzte er dann. „Der Geist, den du sehen willst, ist nämlich an sich unsichtbar.“
„Das ist mir egal“, beharrte Bulgari auf seiner Forderung. „Ich will ihn auf der Stelle sehen!“
„Da muss ich passen und meinen Vorgesetzten fragen“, sagte der Kaplan und wählte die Nummer des Bischofs Schrullkreuzer. „Dass der gleich erreichbar ist, wage ich aber zu bezweifeln.“
Zur großen Verwunderung des Kaplans war der Bischof sofort persönlich am Apparat. Der Kaplan bat untertänigst um Nachsicht, schilderte Schrullkreuzer das Problem und setzte hinzu, dass er glaube, dass der Mann, der ihm vom Vordach herab ins Genick gesprungen war, sich wohl nicht mit einer billigen Antwort abspeisen lassen werde.
„Sagen Sie ihm“, riet der Bischof, „dass man diese Art von Geist nur mit dem Herzen sehen könne.“
Der Kaplan versuchte sein Bestes. Bulgari stampfte aber bloß wütend mit dem Fuß auf, führte ins Feld, dass er auf dem Herzen blind sei und den Geist daher mit seinen Augen sehen wolle. Und er werde weiterhin vom Vordach springen und wahllos Kaplane würgen, bis seine Forderung erfüllt sei. Der Kaplan gab die Antwort an Bischof Schrullkreuzer weiter, der nun ebenfalls ratlos war.
„Ich fürchte“, sagte er am Telefon zum Kaplan, „dass die Sache so vertrackt ist, dass wir eine noch höhere Instanz in der Kirche befragen müssen, wenn nicht überhaupt gleich die höchste.“
„Sie meinen doch nicht etwa seine Heiligkeit, den Papst?“, flüsterte der Kaplan, dem das Herz in die Hose rutschte.
„Probieren geht über Studieren“, sagte Schrullkreuzer. „Mehr als uns den Kopf abreißen kann der Heilige Vater auch nicht. Zufällig habe ich seine Privatnummer. Ich klingle gleich einmal durch, bleiben Sie dran.“
Der Kaplan schluckte gehorsam.
„Was ist?“, rief Bulgari ungeduldig dazwischen. „Ich habe nicht ewig Zeit!“
„Wer stört?“, meldete sich der Papst hörbar genervt. „Ich fliege gerade zu einer anstrengenden Pastoralreise nach Asien. Der Pilot ist lausig und ich sollte beten, dass wir nicht abstürzen. Also?“
Schrullkreuzer, der eine Konferenzschaltung eingerichtet hatte, schilderte dem Pontifex das Problem und bat ihn um eine direkte Antwort an den Kaplan, der ebenfalls in der Leitung sei.
„Was ist das für ein Vogel, der dich piesackt?“, sagte der Papst zum Kaplan. „Beschreib ihn mir, mein Sohn!“
„Er hat Augenbrauen wie Breshnew, blondes Haar wie der Verrückte in Amerika, der wieder Präsident werden will, ein Bärtchen wie Adolf und stechende Augen wie der Leibhaftige.“
„Stechende Augen und ein Bärtchen wie Adolf?“, wiederholte der Papst ungläubig und lachte. „Mensch, den kenne ich! Das ist Bulgari. Wir waren früher eine Zeitlang zusammen im Priesterseminar in Argentinien, bis er in eine Baugrube gefallen ist und sich den Kopf gestoßen hat.“
„Und was tun wir jetzt?“, fragte der Kaplan. „Er lässt sich nicht abwimmeln.“
„Lasst eine Taube fliegen“, sagte der Heilige Vater, „und erklärt ihm, dass das der Geist ist, den er sehen will.“
Bischof Schrullkreuzer bedankte sich überschwänglich beim Papst für diesen Rat.
„Schon gut“, brummte der Pontifex. „Aber ruf mich nie wieder unter dieser Nummer an, Schwuchtel!“
Aus lauter Scham beendet der Bischof augenblicklich die Konferenzschaltung.
Der Kaplan bat seine Mitbrüder vor Ort um eine Taube. Zu seiner Erleichterung ließ sich ein passender Vogel auftreiben, der direkt vor den Augen Bulgaris freigelassen wurde und pfeilschnell zum Himmel stieg.
„Na, also“, freute sich Bulgari. „Dein Geist geht ab wie eine Rakete.“
Er steckte sich seinen Daumen in den Mund und fing selig daran zu nuckeln an.
Michael, 6. September 2024