Wer ist hier der Geisterfahrer?

Der Automechaniker Hermann Schreyvogel wurde von der rechtsradikalen Par­tei, der er seit ihrer Gründung angehörte und die mit einer um einen Tick weni­ger rechtsradikalen Partei eine Koalition einging und die Regierung bildete, mit dem Posten des Verkehrsministers belohnt.

Schreyvogel wähnte sich im siebten Himmel. Kaum im Amt untersagte er per Erlass sofort alle Elektrofahrzeuge und ließ die Kfz-Steuern für alle Benzin- und Dieselschleudern indirekt proportional zum jeweiligen Hubraum neu bemessen (sodass von da an die Besitzer der dicks­ten Brummer am günstigsten davonkamen und im Gegenzug dazu die der kleins­ten Schnauferln und Spuckerln am tiefsten in ihre Taschen greifen mussten).

Sich selbst bestellte Schreyvogel den fettestmöglichen Porsche als Dienstwagen und ließ ihn sich von seinem Herzenstuner noch fetter und stärker machen, wobei er selbst mitarbeitete und die von ihm dafür aufgewendete Zeit der Republik als Überstunden in Rechnung stellte.

Weil fette Fahrzeuge ohne fette Straßen, auf den man mit ihnen rasen kann, nichts wert sind, ließ der frischgebackene Ver­kehrsminister unverzüglich als nächste Amtshandlung mitten durch den Kober­naußerwald, durch eines der größten zusammenhängenden Waldgebiete Mittel­europas, eine schnurgerade Schneise schlagen, in die alsbald eine achtspurige Autobahn eingebettet wurde.

Schreyvogel übersiedelte privat ans äußerste Ende jener Autobahn, um so oft wie möglich Gelegenheiten zu bekommen, am Steuer seines Monsterdienstporsches ins weit entfernte Büro in der Hauptstadt zu rasen und natürlich auch in die Gegenrichtung wieder nach Hause.

Die Autobahn wur­de von den Mitgliedern der rechtsradikalen Partei, deren Zahl stetig wuchs und die zugleich als einzige zur Benutzung des neuen Verkehrsweges autorisiert wur­den, mit Freuden angenommen. Nur wer in Trachtenanzug und mit Gamsbart auf dem Hut die jeweiligen Kontrollstelle passierte, wurde auf das pfeilgerade Asphaltband gelassen.

Schreyvogel, dem der allzeit dichte Verkehr nichts aus­machte, war stets der allerschnellste und überholte lästige Konkurrenten bevor­zugt in waghalsigen Manövern.

Als er es aber einmal übertrieb und weit nach Mitternacht, nach dem Besuch einer Schwulenbar in der Hauptstadt, schwer illuminiert heimwärts brauste und dabei auf der Fahrt durch den mondhellen Kobernaußerwald absichtlich dreizehn weiße Hirschkühe rammte und mit sei­nem Gefährt zur Strecke brachte, schlug das Pendel des Schicksals endlich zuun­gunsten Hermann Schreyvogels aus.

In der Ferne am Horizont entdeckte er plötz­lich auf seiner Fahrbahnseite ein unheimliches Fahrzeug, das ihm augen­scheinlich entgegenkam.

„Verdammt!“, dachte Schreyvogel (und er lallte sogar beim Denken). „Ein Geisterfahrer! Ich muss ausweichen!“

Er wechselte die Spur. Das unheimliche Gefährt, das einem riesigen Mähdrescher glich, tat es ihm sofort nach. Schreyvogel riss sich zusammen und ordnete sich blitzschnell ganz rechts ein. Der Geistermähdrescher, der immer näher rückte, machte alle Manöver des betrunkenen Verkehrsministers mit und blieb auf Kol­li­sionskurs.

„Er wird mich umbringen!“, dachte Schreyvogel, riss verzweifelt ein letz­tes Mal das Steuer herum und wählte noch einmal seine geliebte linke Über­holspur.

Es half nichts. Der Mähdrescher stülpte unmittelbar vor dem unabwend­baren Zusammenstoß einen riesigen Sack nach vorne aus, der einem überdimen­si­o­nierten Kondom glich, in das Hermann Schreyvogel hineinraste, in Erwartung seines unausweichlichen Todes.

Zu seiner Überraschung stellte sich heraus, dass der Mähdrescher tatsächlich eine Geisterscheinung war, die keinerlei Widerstand bot und die Schreyvogel unversehrt durchqueren konnte.

Noch war die große Gefahr je­doch noch nicht gebannt. Während der bangen Zehntelsekunden, in denen plötz­lich eine Stimme zu ihm sprach, entschied sich sein weiteres Schicksal.

„Entwe­der du kapitulierst und kooperierst und entsagst in diesem Augenblick, Hermann Schreyvogel“, sagte die Stimme, „und gibst die Raserei und den Rechtsradikalis­mus ohne Bedingung auf, oder ich lasse dich gegen den Brückenpfeiler krachen, auf den du gerade zusteuerst.“

„Ich entsage, ja, ja, ja!“, stotterte Schreyvogel in einem Tempo, das in Zeiteinheiten gar nicht messbar war.

Dann überschlugen sich die Ereignisse. Schreyvogel wurde buchstäblich im letztmöglichen Moment aus seinem Fahrzeug katapultiert, das sich unmittelbar danach in Nichts auflöste, ebenso wie der Pfeiler, die Autobahnbrücke selbst und auch die gesamte Auto­bahn, die in ein unbekanntes Nirgendwo verschwand.

Als Schreyvogel den Um­stän­den entsprechend weich auf einem Moospolster landete, war der Kobernau­ßer­wald wieder völlig intakt und nichts deutete darauf hin, dass noch wenige Augen­blicke zuvor eine mächtige Autobahn die Reihen der Bäume durchschnit­ten hatte.

Hermann Schreyvogel, der schlagartig wieder nüchtern war, erhob sich aus dem Moos und zog sein Mobiltelefon und sein Portemonnaie aus der Hosentasche, die beide heil geblieben waren. Dabei machte sich eine seiner Visitenkarten selbst­ständ­ig und fiel zu Boden.

Als Schreyvogel sie aufhob und betrachtete, bemerkte er, dass als Berufsbezeichnung nicht länger „Verkehrsminister“, sondern wieder „Automechaniker“ eingetragen war. Sein Dienstfahrzeug, der Monsterporsche, existierte nicht mehr.

Auf einer kleinen Lichtung vor sich entdeckte Schreyvogel ein schwarzes Pferd.

„Wenigstens kann ich nach Hause reiten“, dachte er erleich­tert, „und muss nicht über fünfzig Kilometer durch den Wald mitten in der Nacht zu Fuß zurücklegen.“

„Dass du dich da nicht gründlich täuschst“, sagte plötzlich die selbe Stimme, die Schreyvogel bereits von dem Mähdrescher kannte. „Dieses Pferd ist nur ein Geistgebilde. Es ist der Rappe eines Schusters.“

Michael, 13. September 2024

Hinterlasse einen Kommentar