„Wir gegen rechts, nie mehr wieder einen Führer, Nazis raus“, tönte es durch die Gassen. Nur kurz darauf hörte Franz ein paar hundert Meter weiter die gegenteilige Parole: „Wir gegen links, endlich wieder normale Paare, Ausländer raus“. Er beobachtete aus einiger Entfernung beide Demos, die sich die Stadt zu eigen machten und ihn erfasste ein unbehagliches Schaudern am Rücken. Das Wesen beider Demos schien fast gleich zu sein. Franz ahnte, dass die Gesellschaft erneut ins Wanken geraten würde. Auf die Nazis folgten die 68er, auf die 68er kam die autoritäre Ordnung zurück und die Menschen sehnten sich wieder nach fester Struktur. Als Psychologe und Biologe dachte er lange nach. „Macht, es ist immer die Macht!“, murmelte er vor sich hin. Die, die sich machtlos fühlten, riefen nach Gleichheit, die es doch nie wirklich geben könnte. Alle suchten nach Struktur, die ihnen besorgniserregende Organisationen boten. Gerechtigkeit war für ihn nichts anderes als eine gesellschaftliche Konstruktion, ein Gesetzestext, niemals mit Fairness zu verwechseln. Später sitzend in einem Café, spann er seine Gedanken weiter. Plötzlich verschwammen die Bilder der beiden Demos in seinem Geist, die Parolen wirbelten durcheinander und in diesem Chaos entstand etwas Sanftes, Berührendes und Balanciertes. Die 68er hätten nicht alles über Bord werfen dürfen. Tradition war wichtig, nicht als der berühmte Klotz am Bein, sondern als etwas Fortzuschreibendes. Akzeptanz über alle Grenzen hinweg, biologische Unterschiede als Fakt unumstößlich.
Franz begriff, dass in einer übervölkerten, vom Klimawandel erfassten Welt die Homosexuellen doch nicht das Problem sein konnten – im Gegenteil. Die Geschichte schien sich zu wiederholen. Plötzlich nahmen neben ihm eine Frau und ein Mann Platz. Sie diskutierten ihre unterschiedlichen Auffassungen, am Anfang des Gesprächs sollte irgendjemand irgendwo immer „raus“. „Es ist die Ideologie, vergesst sie“, kam Franz wieder zu sich. Plötzlich saßen am Tisch nur mehr drei Menschen, mit unterschiedlichen Bedürfnissen, ringend um den Kompromiss. Und Franz sah deutlich, wie kurze Zeit später die alten Geister erzürnt aus dem Café flüchteten und lächelte sanft.
Harald, 27. September 2024.
Literarisches Jagdgeflüster 