Die Wahrheit vom Watzmann

„Was seid ihr denn für zwei seltsame Vögel?“, sagt der gealterte Bub, der nach Jahren wieder einmal in Richtung Watzmanngipfel aufgestiegen ist und gleich wieder bis zu den Waden in einem Kuhfladen steht.

„Krah, krah!“, krächzen die beiden Dohlen, die vor ihm hocken, als ob sie jedes Wort verstanden hätten, das an sie gerichtet war.

„In Wirklichkeit seid ihr Schlawinerinnen“, urteilt der Bub verächtlich. „Kein Wort habt ihr verstanden. Im Tarnen und im Täuschen seid ihr groß.“

Er weist hinauf zu den Gipfeln des Watzmannstocks.

„Sieben Kinder nennt die Sage, die mit ihren Eltern ein böses Ende gefunden hätten. Dort oben sehe ich bloß fünf. Seid ihr am Ende die verwunschenen beiden Kinder, die noch fehlen?“

Plötzlich umweht den Buben ein eiskalter Hauch, der keines natürlichen Ursprungs sein kann.

„Das sind sie nicht!“, dröhnt eine Stimme aus dem Nichts und wiederholt: „Das sind sie nicht!“

Die beiden Dohlen krächzen zur Bekräftigung.

„Diese Stimme“, schaudert es den Knecht, „erkenne ich wieder. Gailtalerin, bist du’s?“

„Ganz recht, du Lump!“, schallt es frostig von der Höh, „Und diese beiden Dohlen sind deine Töchter, die du mir gemacht hast, bevor du damals abgestürzt bist! Nie mehr zurückgekehrt bist du in all den Jahren, Windhund!“

„Eine gefühlte Ewigkeit lang lag ich auf der Intensivstation“, rechtfertigt sich der Bub. „Ich wollte mir danach ein neues Leben aufbauen in Amerika. Doch sag, wieso seid ihr verwunschen?“

„Wir waren bettelarm“, erklärt die Stimme der Gailtalerin. „Uns fehlten deine Alimente. Da hab ich meine Seele an den Kobold verpfändet, der unten in Berchtesgaden im Keller in der Raiffeisenbank haust. Am Zahltag konnte ich die Schulden nicht bedienen. Zur Strafe wurden wir verwunschen.“

Der alte Bub rauft sich die Haare.

„Wie kann ich das bloß wieder gut machen und euch erlösen?“

„Indem du endlich aus dem Kuhfladen steigst und unten im Tal unsere Schulden mit Zins und Zinseszins tilgst!“

Beides nimmt der Bub sofort in Angriff und begibt sich hinunter ins Tal, wo er mit seinem Geld aus Amerika nicht nur alle Schulden bedient, sondern gleich die ganze Raiffeisenbank kauft, die er aufstocken und mit einem komfortablen Penthouse ausstatten lässt, in das er mit der rückverwandelten Gailtalerin und den beiden Töchtern einziehen wird.

Die Töchter, die wie ihre Mutter im verwunschenen Zustand jung geblieben sind, sieht der alte Bub zum ersten Mal in ihrer menschlichen Gestalt. Er findet sie ausnehmend schön und freut sich insgeheim, dass der Kobold sie in Dohlen verwandelt hat und nicht in Schnepfen.

Michael, 4. Oktober 2024

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