Eine spukhafte Karriere

Beim Durchstich des Semmering-Basistunnels erhob sich, nachdem die Tunnelvortriebsmaschinen abgestellt worden waren, ein schauerliches Geräusch, das von einem feinstofflichen Gebilde auszugehen schien und das markerschütternd durch die beiden gerade vereinten Röhren schallte.

Der Baustellenleiter, ein vierschrötiger, couragierter Mann, den nichts so leicht aus der Ruhe brachte, trat zu dem Geistwesen hin, das im Licht der Baustellenbeleuchtung aussah wie ein riesiger, blutroter Schatten.

„Was bist du denn für einer?“, rief der Bauleiter. „Gehörst du überhaupt hierhin?“

„Selten dämliche Fragen“, donnerte der Schatten. „Was ist das hier für ein Tunnel? Der Semmering-Basistunnel, richtig! Ergo bin ich der Semmering-Basisgeist, wer denn sonst? Eure verdammten Riesenmaschinen haben mich so sehr in die Enge getrieben, dass ich mir nun keinen Platz mehr weiß.“

„Die Politik, die diesen Tunnel wollte“, erwiderte der Bauleiter ungerührt, „hat dieses Problem verursacht. Sie soll es gefälligst auch lösen.“

Er griff zu seinem Mobiltelefon und tätigte ein paar Anrufe.

„Bedauere“, sagte er danach zu dem Schattengeist. „In der Regierung hat niemand Interesse an dir. Der Oppositionsführer nimmt dich aber gern in sein Schattenkabinett auf.“

„Besser als nichts“, sagte der Semmering-Basisgeist. „Gibt es bei euch vielleicht eine Mitfahrgelegenheit für mich?“

Der Baustellenleiter nickte.

„Du kannst hinten auf meinem Pick-Up mitfahren. Ich muss ohnehin in die Hauptstadt.“

Der Schatten klappte sich auf ein praktisches Format zusammen und legte sich auf die Ladefläche des Pick-Ups.

In Wien stieg er aus und schlug sich schwebend zur Parteizentrale der größten Oppositionspartei durch, wo er von deren Vorsitzendem freundlich empfangen wurde. Der Vorsitzende hielt Wort und nahm den Semmering-Basisgeist als Schattenwirtschaftsminister in sein Schattenkabinett auf.

Allerdings verlangte der Politiker, dass der Geist seinen Namen ein wenig adaptierte, damit das Wahlvolk nicht abgeschreckt würde von dem Umstand, dass ein Geist für ein Ministeramt kandidierte. Der Basisgeist stimmte zu und nannte sich als Hommage an seine Herkunft fürderhin Sammy Ringer.

Bei der folgenden Wahl errang die größte Oppositionspartei eine überwältigende Mehrheit der Stimmen und stellte infolgedessen von da an die Regierung. Sammy Ringer, für den sich als Person niemand interessierte, wurde Wirtschaftsminister.

Er zog in den Keller des Regierungsgebäudes am Stubenring 1 ein, wo er sich unterirdisch behaglich geistgerecht einrichtete und die ganze Nacht ungestört spukte.

Am Tag hingegen tat er nichts und machte deshalb auch keine Fehler und wurde aus diesem Grund in den Augen der Bevölkerung bald zu einem der beliebtesten Minister, weil er im Gegensatz zu seinen Kollegen, die unentwegt vor sich hin schulmeisterten, von öffentlichen Auftritten absah und niemanden belehrte.

Neuerdings wird Sammy Ringer sogar als ernstzunehmender Kandidat für das Amt des Bundespräsidenten gehandelt.

Michael, 11. Oktober 2024

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