Elias vertiefte sich in die Zeichnung seiner Tochter.
„Wie findest Du sie?“, zappelte sie ungeduldig neben ihm.
„Sehr interessant“, murmelte er gedankenverloren, „so als ob plötzlich im Nebel etwas auftauchen würde, noch nicht klar, aber schattiert erkennbar.“
„Wirklich interessant“, wiederholte Elias.
Seine Tochter hüpfte vor Freude und Elias störte sich am Nachsatz nur kurz.
„Das habe ich in Geschichte gemacht, mir war so fad“, meinte sie und er sagte nur leise zu sich selbst: „Zumindest kein Hauptfach“.
„Nein, da mache ich die zeitaufwändigeren A3-Dinge mit den Tieren“, schien sie den Hinweis ihres Vaters nicht ganz zu verstehen.
„Das musst Du unbedingt rahmen lassen und im Wohnzimmer aufhängen“, begeisterte sich seine Tochter weiter.
Er kam der Anforderung eine Woche später nach und als das Werk samt Rahmen eintraf, warf er einen Blick nochmals darauf und konnte gar nicht anders, als die Details dieser Zeichnung genau zu betrachten. Es war nur mit schwarzer Tinte erstellt und ergab ein schwungvolles Muster. In der Mitte schien sich ein schelmisches Wesen zu befinden.
„Na, wer bist denn Du?“, dachte Elias ohne den Blick abzuwenden.
„Das Kind in Dir bin ich!“, erwiderte der Schelm.
Elias erschrak fürchterlich, als nicht nur der Schelm, sondern das ganze Bild in Bewegung geriet.
Er ohrfeigte sich leicht, klopfte fester auf seinen Hinterkopf und rieb sich die Augen.
„Bist Du bald fertig?“, fragte der Schelm.
„Warum spricht eine Zeichnung mit mir?“, stellte Elias eine gar unnötige Frage.
„Ich entdecke mit Dir das Kind in Dir wieder!“, präzisierte der Schelm seine Aufgabe schwärmerisch.
Sie sprachen über Vergangenes, was ihm als Kind soviel herzerfüllendes Vergnügen bereitet hatte. Nach zehn Minuten war Elias sehr traurig.
„Du musst nicht weinen, Elias“, wurde der Schelm nachdenklich, „es ist nie zu spät, sich selbst ernstzunehmen, sich selbst zuzuhören und liebevoll im Umgang mit sich selbst zu sein. Nimm dir ein Beispiel an deiner Tochter, die die Schule tatsächlich für die sinnvollen Dinge nutzt und klar unterscheidet, ob durch Druck Belangloses passiert oder tiefe Beziehung echtes Lernen forciert!“
Elias nickte nachdenklich und spürte an seiner rechten Schulter ein Pulsieren. Langsam wurde die Zeichnung wieder starr und Elias bemerkte, dass seine Tochter neben ihm stand und ihm mit einem Finger mehrmals an der Schulter stupste.
„Der Rahmen ist echt cool, muss gleich in Mathe noch ein Bild erstellen, Yolo*“, meinte seine Tochter trocken.
Normalerweise erwiderte Elias ihr und klärte sie über die Wichtigkeit der schulischen Leistungen auf.
„Ja, das solltest Du wohl“, überraschte Elias diesmal jedoch seine Tochter.
Elias machte sich kurze Zeit später selbständig, eröffnete ein kleines Kaffee mit vielen erotischen Büchern in den Regalen, ein Jugendtraum vor dem ihn seine Lehrer immer gewarnt hatten, denn mit diesen Schundbüchern würde nur der Charakter verdorben werden.
„Oder waren das mit dem Charakterverderben doch nicht gar die Schulbücher und nicht die Schundbücher“, dachte Elias innerlich lächelnd, als er gerade „Vögelfrei“ von Sophie Andresky aufschlug. Ein Schelm, der dabei Böses denkt.
*) Yolo = you only live once
Harald, 18. Oktober 2024.