Albert und die Gestalt im Wald

Albert ging langsam und bedächtig am Samstag Abend den gewohnten Waldweg entlang, als plötzlich sich die Blätter vom Boden erhoben und dabei eine veritable Gestalt von fast drei Metern Höhe vor ihm entstand. „Ein merkwürdiger Herbststurm“, fand Albert. Er bekam eine Gänsehaut. Dabei versuchte er sich zu beruhigen, in dem er sich selbst erklärte, dass Stürme im Herbst nicht ungewöhnlich wären und seine aufgestellten Haare ihn größer machten, was evolutionär bei voller Fellbehaarung gegenüber Feinden von Vorteil war. Die Luft um diese Gewalt war kalt, unwirtlich. „Soll das ein Halloween-Scherz sein?“, fragte Albert leicht zitternd, als das aufgestellte Herbstlaub menschliche Züge annahm. Niemand konnte ihm hier zu Hilfe kommen, er war dem Herbstlaub ausgeliefert. Ein Leben, ausgehaucht im Wald, dieser Herbst, der so schnell zum Winter mutierte, Albert konnte es nicht fassen. „Ich habe vor Dir keine Angst!“, wurde er nun lauter. Auch habe ich kein schlechtes Gewissen“, war nun leiser zu hören. „Was hätte ich denn tun sollen?“, forderte er die Erscheinung zur Antwort heraus. „Vielleicht war es ein Fehler“, gestand er sich unmittelbar danach selbst ein. „Und jetzt? Es ist zu spät, alles vorbei“, übermannte ihn so etwas wie Einsicht. Ein Fehler, der so lange zurücklag, hatte doch im bunten Herbst nichts verloren. Ein Leben, das noch gefeiert werden wollte, sah nun, wie sich die menschliche Gestalt zu einem Galgen formte. Er spürte, wie ihm der Atem genommen wurde, die Schlinge sich um seinen Hals legen würde. „Ich versuche es, ja, ich werde es versuchen“, schrie Albert jetzt in schierer Verzweiflung. Das eben noch so bedrohliche Laub segelte blätterreich in beruhigender Form zu Boden. Albert rang nach Luft, beruhigte sich nur langsam wieder. „Ich bin kein Nussknacker, der immer funktioniert“, gab Albert dem Firmeneigentümer, mit dem er fast ein ganzes Leben verbunden war, am folgenden Montag zur Antwort. Mit diesen Worten verließ Albert zuerst das Büro, kurze Zeit später das Unternehmen. Als Kind war er es gewohnt, zu funktionieren, gute Schulnoten, beste Manieren, eine Karriere, eine vernünftige Ehe, alles nur um geliebt zu werden. Albert, ein Mann, der seinen Selbstwert nun nicht mehr nur aus Leistung bezog, ging langsam und bedächtig einen Waldweg entlang, den er noch nicht kannte. Und plötzlich wurde er von bunten schwingenden Blättern umgarnt und er spürte eine Wärme wie nie zuvor.

Harald, am 1. November 2024.

Hinterlasse einen Kommentar