Das Ohr von Raitenhaslach

Eines Tages kommt ein ungewöhlich kleiner, gebrechlich wirkender Mann in einer Mönchskutte, der schon mehr Geist ist als Materie, in mein interkulturelles Forschungslabor an der Universität in Heidelberg. An jeder Bewegung, die der sich bereits auflösende Greis macht, sieht man ihm die Strapa­zen des Alters an.

Ich frage ihn höflich, was ihn zu mir an mein Institut geführt habe.

Er müsse mir etwas zeigen, sagt er und zieht unter seinem Gewand ein selt­sames gläsernes Gefäß hervor, in dem sich in einer Flüssigkeit ein noch merkwür­digerer Gegenstand befindet.

Es handelt sich um ein menschliches Ohr. Der Alte sagt, dass er im 110. Lebensjahr stünde und dass er dieses Ohr seit mehr als 90 Jahren wie einen Schatz hüte, in einer geheimen unterirdischen Kammer in dem aufgelassenen Kloster Raitenhaslach, die er nur nachts verlasse. Er hätte die Wa­che über das Ohr von einem Mitbruder übernommen, der es ihm kurz vor seinem Tod überantwortet habe.

An mich erginge nun die Bitte, dass ich ihm sagte, was ich an meinem Institut über dieses Ohr herausfinden könne. Er übergibt mir das gläserne Gefäß.

Mit bloßem Auge könne ich lediglich erkennen, dass es sich um ein rechtes Ohr handelte, sage ich.

Der Alte nickt.

Damit ich Genaueres feststel­len könne, müsse ich das Ohr aus der Flüssigkeit herausnehmen, in der es nach meiner Vermutung bereits seit einigen Jahrhunderten konserviert würde.

Der Greis ermuntert mich, fortzufahren. Er habe sich zuvor erkundigt, mein Labor sei ihm als das beste empfohlen worden.

Mit einem archäologischen Skalpell durch­trenne ich die steinharte Kordel, die den Deckel des Gefäßes umschließt. Behut­sam hebe ich die schützende Bedeckung ab, nehme das Ohr mit einer Pinzette aus der Flüssigkeit und führe es in einen radiometrischen Apparat ein, den ich selbst konstruiert habe. Wenige Minuten später zeigt das Gerät auf seinem Dis­play für das Ohr ein Alter von etwa 2000 Jahren an.

Der greise Mönch nickt zu­frieden.

Ich frage ihn, ob er noch mehr wissen wollte.

Er wolle alles wissen, ent­gegnet der Alte, was ich ihm sagen könne.

Zum Glück, sage ich, hätten meine Mitarbeiter und ich an unserem Institut auch ein spezielles Topometer konstru­iert, dass geradezu prädestiniert sei, weitere Informationen über 2000 Jahre alte Ohren zu liefern.

Wieder bemühe ich meine Pinzette, um das Ohr aus dem radio­metrischen Apparat in das Objektfach des Topometers zu übertragen, das mit einer Verzögerung von etwas zehn Sekunden selbsttätig schließt. Das erste Ergeb­nis, das auf dem Monitor angezeigt wird, ist der Umstand, dass das Ohr in gerin­gem Ausmaß von Legionellen befallen ist, die Auslöser der berüchtigten Legio­närskrankheit sind.

Man könne also zwingend davon ausgehen, dass der Besitzer des Ohres ein römischer Legionär gewesen sein müsse oder zumindest ein Mann mit soldatischem Hintergrund.

Der Alte lächelt zufrieden.

Die Detailanalyse, die geraume Zeit später auf dem Monitor erscheint, ist so aufregend, dass ich sie laut vorlese. Das Ohr weise Narben auf, steht da, die darauf hindeuteten, dass es schon einmal mit einem waffenähnlichen Gegenstand, wohl einem Schwert, von seinem Kopf abgetrennt worden sei, dass es aber nur wenig später wieder mit dem Kopf verbunden worden sei. Die Spuren der Nähte, die dies indizierten, sei­en jedoch so fein und rührten von Stichen her, die so kunstvoll ausgeführt wor­den wären, dass kein menschlicher Chirurg vor 2000 Jahren dazu in der Lage gewesen wäre.

Der greise Mönch strahlt, als ich fertig gelesen habe.

Und ich wage zu behaupten, setze ich hinzu, dass auch heute kein Chirurg über die nötigen Fer­tigkeiten verfügte, um ein Ohr auf diese außergewöhnliche Weise wieder anzunä­hen. Mit einem Wort, es stünde für mich außer Zweifel, dass es sich um das Ohr des Malchus handelte, das Petrus seinem Besitzer im Garten Gethsemane abge­hauen hätte und das Jesus dem solcherart Verstümmelten nur wenige Augenbli­cke später mit göttlicher Kraft wieder an den Kopf geflanscht hätte.

Mit leuch­tenden Augen fragt mich der greise Mönch, ob ich ihm das, was ich soeben ausge­führt hätte, auch schriftlich bestätigen könne.

Mit dem größten Vergnügen, ant­worte ich, ich könne den Wortlaut der Analyse auf elektronischem Weg ins Sekre­tariat übermitteln, wo Drucker bereitstünden, die alles zu Papier brächten.

Wozu er die Bestätigung denn benötige, frage ich den Alten aus Interesse.

Er wolle damit seinen letzten Weg antreten, erklärt mir der Alte, der ihn nach Rom zu Papst Franziskus führte. Wenn der die Geschichte des Ohres vernähme, das in der Zeit der Völkerwanderung im Rahmen der Zweiten mitteleuropäischen Reli­quienverschiebung nach Deutschland gelangt sei und seit über 1000 Jahren in der geheimen Kammer in Raitenhaslach gehütet würde, müsse er die schändliche Aufhebung des Klosters endlich rückgängig machen und es zu einer heiligen Stät­te von höchster Wichtigkeit aufwerten.

Ob sein irdischer Weg als Mönch und Hü­ter des Ohres in Rom zu Ende sei und ob er sich endgültig auflöste, setzt der Alte hinzu, oder ob es ihm vergönnt sei, mit dem geheiligten Ohr noch einmal in Raitenhaslach einzuziehen, läge aus­schließlich im Ermessen und in der Gnade des Allmächtigen.

Michael, 1. November 2024

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