Joachim und seine Fee

Joachim war eher kleinwüchsig und entsprach wohl dem landläufigen Klischee eines schrulligen, altgewordenen Junggesellen. Seine Gleichgültigkeit gegenüber Meinungen anderer hatte er in jungen Jahren bereits sehr erfolgreich entwickelt und so bereitete es ihm oft eine diebische Freude, Mitmenschen zum Staunen zu bringen. 

Ein Moment fiel ihm erst vor kurzem wieder ein, als sogar nicht nur der neugierige Nachbar, sondern auch völlig unbekannte Spaziergänger an seinem an einem Baum befestigten Häuschen stehen blieben und sich über das Schild „Hübsche blonde Fee gesucht, geboten wird Kost und Logis“ samt einer Handabbildung, deren Finger auf jenes kleines Häuschen am Baum deutete, wunderten. Joachim war erst vor kurzem vom Orange Wine auf einen Wiener Gin umgestiegen und nahm daher anfangs seine ersten Wahrnehmungen gar nicht so ernst. Am dritten Tag grüßte er, als er wieder an dem wohl vor zwei Jahrzehnten aufgehängten Häuschen vorbeiging, dann doch zurück. Herauskam tatsächlich eine kleine blonde Frau, die sich sofort über die fehlende Kost beschwerte. Joachim entschuldigte sich förmlich und – das war vielleicht einer der großen Vorteile seiner Schrulligkeit – brachte ohne das auch nur als sonderbar einzustufen ihr sofort einen köstlichen Marmorkuchen. 

Sabrina, so stellte sie sich vor, war sichtlich damit zufrieden. Das ging einige Zeit so und Joachim empfand mittlerweile tiefe Liebe zu seiner kleinen Fee. Diese schien auch sein Gefühl zu erwidern und jetzt war nur mehr der Größenunterschied ein echtes Problem. Joachim kam trotz langwierigen Grübelns auf keine Lösung und befragte schlussendlich eine künstliche Intelligenz. Diese behauptete völlig wahrheits- und sinnwidrig, dass es keine Feen geben würde. Also versuchte er es mit dem doch naheliegendsten, dem Essen. Die Fee wuchs leider eher in die Breite, wenn überhaupt. Auch der Versuch mit Luft und Liebe machte die Fee keinen Zentimeter größer. Die Wurzel einer Araune, um Mitternacht in einer November-Vollmondnacht ausgegraben, machte ihn ziemlich benommen, lies die Fee in ihrer Größe aber weiter unverändert. Als ihn die Fee eines Tages ansprach, was ihn denn so traurig stimmen würde, berichtete er von seinem Wunsch und das Zusammenleben mit ihr in voller Größe. Die Fee lächelte und meinte, dass sie jederzeit in der Lage wäre ihre Statur zu verändern.

Die Fee, die nun in ihrer vollen Größe lebte, hatte sich weit mehr als nur körperlich verändert. Sie war nicht mehr nur die kleine, verspielte Gestalt, die Joachim einst im Baumhäuschen besucht hatte, sondern eine selbstbewusste, starke und sehr liebenswerte Frau. Ihre zauberhaften Eigenschaften, die sie noch immer besaß, schienen nun eher im Hintergrund zu wirken – sie war, wie Joachim feststellte, nicht einfach eine „Fee“, die im Übrigen einem Model aus Amerika zu gleichen schien, sondern vielmehr eine in allen Bezügen – Joachim musste dabei innerlich verschmitzt lächeln, wenn er das laut aussprach – vollwertige Partnerin in seinem außergewöhnlichen Leben.

Der Verkauf des kleinen Baumhäuschens zu einem fast schon absurden Preis an seinen neugierigen Nachbarn, der nun geduldig auf eine Rothaarige wartete, war so nur mehr das berühmte Tüpfelchen auf dem „i“. Selbst die ganze Nachbarschaft war durch die doch ungewöhnlichen Begebenheiten etwas schrulliger und lebendiger geworden, was Joachim und seine Fee diebisch freute.

Harald, am 15. November 2024

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