„Neunzigprozent wählen die Sicherheit vor der Freiheit“, schmetterte Lois in die Stammtischrunde, als diese wieder ihre Weisheiten verbreiteten. „Na und? Lieber lebe ich, als dass ich diese neumodernen Anschauungen von Freiheit teile. Uns ist früher auch nichts abgegangen und eine starke Hand ist doch nie verkehrt. Deine Ideen sind schon wieder genauso daneben wie dein zerrupftes Huhn im Garten“, posaunte Franz lachend. „Ist schon gut“, gab Lois fast schon auf, „aber sag nichts gegen mein Huhn“. Die Stammtischler – mit ihren Ehegattinnen meist über Jahrzehnte verheiratet – hatten den Duft der Freiheit schon lange vergessen. Lois wusste, dass diese mit Worten nicht zu überzeugen waren. Der Stammtisch im November fing ganz harmlos an. „Der Wahlsieger soll die Regierung bilden, das ist doch völlig klar“, holte der Andi gleich ein brisantes politisches Thema hervor. „Ja, wir haben schon genug Ausländer hier im Bundesland“, musste Norbert noch einen darauflegen. Als die Gaststubentür aufging und eine Brasilianerin in Hotpants eintrat, ging ein Raunen durch den Stammtisch. „Na, ja, es kommt halt auf den Einzelfall an“, meinte nun Herbert und machte eine Kopfbewegung Richtung der Schönheit. „Da lasse ich mich nicht blenden, Konsequenz ist gefragt“, meinte der junge David. Keine zwei Minuten später stieß zur Brasilianerin eine Weißrussin hinzu. Offene Münder waren die konsequente Folge und David wankte nun auch. Nach dem Eintreffen von weiteren Frauen unter anderem aus Puerto-Rico, Thailand, Schweden, Bulgarien und dem Libanon wurde es sehr ruhig am Stammtisch. „Also ich bin froh, wenn Menschen aus dem Ausland bei uns sind. Das ist doch wirklich eine Bereicherung“, frohlockte nun Norbert überraschend. Der Andi meinte überhaupt, dass er sich m Bereich der Integration schon seit langer Zeit gerne engagieren würde. Lois sprach die Damenrunde an und so wurden die Tische zusammengeschoben. Normalerweise verließen die ersten bereits gegen 21.00 Uhr den Stammtisch. Diesmal war es nach Mitternacht und ans nach Hause gehen war nicht zu denken. Die Wirtin ging auch bereits schlafen und die Stammtischrunde hatte so etwas wie freie Bahn. Was in dieser Nacht wirklich alles passierte, wollte auch Lois nicht im Detail wiedergeben. Der Völkerverständigung tat es jedenfalls sehr gut. Der Stammtisch war seitdem wie ausgewechselt, weltoffen, progressiv und immer der Freiheit verpflichtet. Lois strich genüsslich „ein ganzes Bordell mieten“ von seiner Bucket List und kümmerte sich nun darum, wie er eine Ziege melken könnte. Die Bucket List stammte übrigens nicht von ihm, sondern von seinem verrückten Huhn im Garten, das zu jeder Vollmondnacht der menschlichen Sprache mächtig war und bisher mit seinen Vorschlägen noch nie daneben gelegen war.
Harald, am 22. November 2024