Hemma, die auf einem Bauernhof in Gurk wohnte, wünschte sich bereits im Alter von vier Jahren einen Boxsack.
„Ich werde Weltmeisterin im Schwergewicht!“, behauptete sie volltönend und handelte sich den Widerspruch ihres Großvaters ein, der in ihrer Familie das Geld hatte und über dessen Verteilung allein entschied.
„Schwachsinn!“, donnerte der Opa. „Du wirst gar nichts, weil du schon etwas bist, ein kleines Mädchen nämlich, und als solches gehörst du später an den Herd, neben dem du jetzt schon stehst. Das letzte, was du also brauchst, ist ein Boxsack!“
„Du bist ein Taliban, Opa!“, schrie Hemma und sah ihn dabei mit so durchdringendem und furchterregendem Blick an, dass der Alte, der nicht wusste, was ein Taliban war, es mit der Angst zu tun bekam und auf der Stelle im Dorfladen über einen fahrenden Zwischenhändler einen Boxsack für seine Enkelin orderte.
„Geht doch!“, murmelte Hemma, nachdem ihr Großvater den schweren Sack an einem Haken befestigt hatte, den er eigens in einen Querbalken an der Decke über der Tenne geschraubt hatte. Von jenem Augenblick an begann Hemma jede freie Minute zu nutzen, um auf ihren Boxsack einzuschlagen.
„Wenn ich Weltmeisterin werden will“, sagte sie nach einer Weile zu ihrem Großvater, „brauche ich auch noch Boxhandschuhe, damit ich meine Technik verbessern kann und mir nicht die Finger breche.“
Der Großvater, der sich in der Zwischenzeit erkundigt hatte, was es mit den Taliban auf sich hatte, blieb diesmal hart und schaltete auf stur.
„Nur über meine Leiche! Wenn du dir erst einmal die Finger gebrochen hast, wird deine Wut verrauchen und du wirst reumütig an den Herd zurückkehren, wie es sich für dich als Mädchen geziemt.“
Hemma gab aber keineswegs klein bei, sondern schlug weiterhin bei jeder sich bietenden Gelegenheit mit bloßen Fäusten und mit immer größerer Wucht und Raffinesse auf den Boxsack ein.
Einige Jahre später fand Hemma eines Morgens ihren Großvater leblos unter ihrem Boxsack auf der Tenne liegend. Den Sack umgab eine seltsame, feinstofflich anmutende Aura, die Hemma sich nicht erklären konnte. Der herbeigerufene Hausarzt konnte nur noch den Tod ihres Großvaters feststellen. Er war einem Herzinfarkt erlegen und hinterließ seiner Enkelin testamentarisch eine beträchtliche Summe, allerdings unter der Auflage, dass sie das Geld nicht für Boxhandschuhe ausgab.
Hemma war darüber so aufgebracht, dass sie das Erbe ausschlug und die Sturheit ihres Opas verfluchte, die sogar über seinen Tod hinausging. Sie haderte jedoch nicht mit ihrem Schicksal, sondern schrieb sich gleich beim Gurker Boxklub ein, wo man ihr zum Einstand ein Paar Boxhandschuhe lieh, die Hemma nur unter der Bedingung annahm, dass man sie ausschließlich gegen männliche Gegner boxen ließ.
Das jahrelange harte Training an ihrem Boxsack machte sich nun bezahlt. Hemma war ihren Gegnern von Anfang an überlegen, wurde zuerst Orts-, dann Bezirks- und schließlich Landesmeisterin bei den Männern in ihrer Gewichtsklasse.
Sie trainierte zusätzlich weiterhin an ihrem Boxsack, der immer noch an dem Haken über der Tenne hing und von jener seltsamen Aura umgeben war.
Zu Hemmas großem Glück trat alsbald der Boxpromotor Willi Sann in ihr Leben, der ihre Karriere in eine professionelle Richtung lenkte. Er sorgte dafür, dass Hemma zuerst nationale und dann internationale Kämpfe bestreiten konnte, die sie ausnahmslos gegen Männer und immer durch k.o. gewann; nach zahlreichen Siegen gelang es Willi Sann schließlich, im legendären Madison Square Garden für Hemma ein Duell um die Weltmeisterschaft zu vereinbaren; zum ersten Mal in ihrem Leben gewann sie nicht durch k.o., sondern nach Punkten.
Sie hatte jedoch ihr Lebensziel erreicht und war Weltmeisterin. Weil ihr danach jegliche Motivation zum Weiterboxen fehlte, trat sie unmittelbar nach ihrem Titelgewinn zurück, kehrte zurück an den heimatlichen Hof nach Gurk und retournierte die geliehenen Handschuhe an den Boxklub.
Sie konnte sich jedoch Interviewanfragen der internationalen Presse kaum erwehren und lud schließlich eine Handvoll Reporter zu sich nach Hause ein, wo sie auf der Tenne neben ihrem Boxsack stehend bereitwillig Auskunft gab.
Von dem Boxsack strahle eine geheimnisvolle Aura aus, bemerkte einer der Reporter und fragte Hemma, was es damit für eine Bewandtnis habe.
Das wisse sie auch nicht, gestand Hemma, sie spüre nur seit langem schon, sobald sie auf den Sack einschlage, eine unbändige Wut, die sie so stark gemacht habe, dass sie Weltmeisterin geworden sei.
Der Reporter bot Hemma an, den Boxsack auf Kosten seiner Zeitung fachmännisch untersuchen zu lassen, worin Hemma einwilligte.
Eine renommierte Spiritologin aus Delphi, die den Sack vor Zeugen der Länge nach aufschneiden ließ, löste das Rätsel schließlich. Nachdem ihr Mitarbeiter die Motorsäge abgesetzt hatte, fuhr ein Geist aus dem Sack hinauf ins Deckenholz über der Tenne.
Ähnliche Geister seien ihr in ihrem bisherigen Berufsleben erst einmal untergekommen, rief die Spiritologin aufgeregt, und zwar in Afghanistan bei den Taliban.
Michael, 22. November 2024