Der Geist von Ingeborg


Wenn ich mein Grundstück verlasse, mich nach rechts wende und dem Verlauf unserer Gasse bis zu deren Ende folge, dort die etwas breitere Hauptzufahrtsstra­ße quere und auf der anderen Seite einen unscheinbaren, durch zahlreiche Bege­hungen ausgetretenen kleinen Pfad in das Wäldchen dort einschlage, gelange ich rechter Hand schon nach wenigen Schritten an eine Stelle, von der ich etwas ganz Ungeheuerliches berichten muss, nämlich, dass Ingeborg Bachmann dort wohnt. Nein, ich bin nicht verrückt. Natürlich ist mir bewusst, dass Ingeborg Bachmann 1973 in Rom gestorben ist und dass sie nicht als fast 100jährige aus Fleisch und Blut dort im Gestrüpp unter den Bäumen hockt, aber dass sie dort wohnt, wahr­scheinlich als eine Art Geist, steht für mich außer Zweifel. Ich kann sie sogar se­hen. Sie sieht so aus wie damals gegen Ende der 60er Jahre, etwa so wie auf je­nem Foto, auf dem sie vom Unterrichtsminister Piffl-Percevic den Staatspreis für Literatur entgegennimmt. Sie kommuniziert mit mir, wenn ich mich an der ge­nannten Stelle im Wäldchen aufhalte, allerdings nur dann, wenn ich ihr den Rü­cken zudrehe. Sie spricht mir einzelne Zeilen aus der Anrufung des Großen Bä­ren in den Nacken. Besonders oft rezitiert sie jene Stellen, die von den Zapfen handeln, die getrieben und gerollt werden, die der Bär anschnaubt und prüft und packt. Ingeborg will, dass ich Stellung nehme zu dem, was der Bär tut, und dass ich es ihr erkläre, wie ich es sehe. Ich bin mit diesem Ansinnen stets überfordert. Es tut mit leid, Ingeborg, murmle ich dann hilflos und zucke die Schultern, es sind deine Zapfen und dein Bär, ich kann es dir nicht erklären. Mein Unvermö­gen stimmt sie jedesmal ein wenig traurig. Manchmal wiederholt sie die Zeilen noch einmal, um mir auf die Sprünge zu helfen, oder sie wechselt zu der letzten Strophe, in der der Bär die Zapfen jagt, die von den Tannen gefallen sind. Aber auch dann kann ich nicht mit Worten ausdrücken, was ich mir vorstelle, wenn ich diese Zeilen höre. Ich bücke mich dann hinunter zum Waldboden und hebe von dort ein paar schöne Zapfen auf, die ich Ingeborg hinhalte. Du kannst diese Zap­fen prüfen, sage ich, du kannst es stellvertretend tun für deinen Bären. Ich weiß aber, dass es nicht das ist, was sie will. Sie lächelt zwar höflich, sagt aber nichts mehr und schwebt davon, zieht sich zurück, tiefer ins Gebüsch hinein und ver­birgt sich, so dass ich sie nicht mehr sehen kann. Wir wissen beide, dass ich erst dann mit ihr über die Zapfen sprechen kann, wenn auch ich einmal tot bin. Wenn ich einmal ein Geist bin, Ingeborg, rufe ich ihr dann hinterher, dann werde ich meinen Aufenthalt in diesem Wäldchen nehmen, gegenüber, in den Büschen auf der anderen Seite des Pfades, dort, wo ich vor ein paar Jahren einmal Himbeeren gepflückt habe, von den Sträuchern, die in den Jahren danach Brombeeren tru­gen. Dort werde ich dann ausharren, Ingeborg, rufe ich, bis ich die Worte gefun­den habe, für deine Zapfen und für die Gefühle, die ich für sie hege. Ich werde dich dann alles wissen lassen, was ich weiß.

Michael, 13. Dezember 2024

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