Die goldene Kugel

Norbert ging an einem regnerischen Advent-Wochenende in das nahe gelegene Einkaufszentrum. Im zweiten Stock hing ein großer, scheinbar dekorativer Würfel, der an der Decke befestigt war und in dessen Mitte sich eine große, goldene Kugel befand. Einige Paare, in deren Händen befanden sich meist Taschen mit bekannten Modelabels, blieben dort stehen und machten Selfies. Norbert konnte den Blick von dieser Kugel nicht abwenden, da sie sich ganz langsam um die eigene Achse zu drehen begann. Die Bewegung wurde schneller und er hörte die Aufforderung, in Läden zu gehen und große Einkäufe zu tätigen. Aus einem tief in ihm sitzenden Widerstand kam er der Aufforderung nicht nach, sah aber, wie sich die Massen in die Läden begaben und wie gutmütige Schafe einem unsichtbaren Hirten folgend ihr Geld ausgaben. Die Kugel bewegte sich nun nicht mehr nur um die eigene Achse, sondern fing an zu pendeln. Norbert wich jedoch nicht zurück, sondern wehrte die Kugel mit beiden Händen energisch ab und gab ihr eine andere Richtung. Er würde hier sicher keinen Cent ausgeben. Plötzlich fing die Kugel ihm zu drohen an: „Es ist bald Weihnachten, Verrückter! Also Kauf Geschenke!“ „Na und?“, entgegnete ich trocken, „ich kaufe ich nichts!“ Die Kugel hüpfte vor Ärger noch energischer und Norbert legte nach: „Zum Mitschreiben – Ich k-a-u-f-e n-i-c-h-t-s“. Die Kugel beruhigte sich wider Erwarten und meinte lapidar, ein Verrückter weniger würde das Kraut jetzt nicht fett machen. Leider behielt sie recht, es wurde wieder das beste Umsatzjahr im Handel seit Menschengedenken. Norbert ging langsam und kopfschüttelnd aus dem Gebäude. Erst nach einigen hundert Metern wagte er noch einmal den Blick zurück. Und da konnte er in großen Buchstaben deutlich an der westlichen Gebäudewand „Landesnervenklinik“ lesen. Leise fing er zu singen an: „Hey, hey, hey, ich bin der Goldene Reiter…“

Harald, 13. Dezember 2024.

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