Silvester 2024: Ein Jahr voller Wendungen und neuer Chancen

Das Jahresende hatte Toni sehnlich erwartet. Ihr Mann ließ sich im Jänner scheiden, im Februar starb ihre Katze, im Juni verlor sie ihre Arbeitsstelle, im Oktober brannte die Küche ab und im November gab ihr Auto den Geist auf. Mit dem noch verbliebenen Geld kaufte sie in der letzten Dezemberwoche etwas Räucherwerk. Sie streute zuerst den weißen Salbei auf ein glühendes Kohlenstück. Bedächtig ging sie durch die kleine Wohnung. Als sie die beschädigte Küche erreichte, hörte sie ein leises Zischen aus dem verbliebenen, durch das Feuer mitgenommenen Schrank. Bevor sie diesen öffnete, fügte sie noch etwas Birkenrinde zum Salbei hinzu. Vorsichtig ergriff sie den nur noch an einer Seite befestigten Griff und zog daran. Die Tür öffnete sich schneller als erwartet, und plötzlich stand ein Mann mittleren Alters vor ihr.

„Gestatten, Tobias!“, rief er fröhlich. 

„Ha! Ich wusste es! Ein Dämon ist für diesen ganzen Mist verantwortlich!“, schrie sie ihn an und hielt ihm den Rauch unter die Nase. 

„Der Salbei riecht gut, aber da ist noch etwas dabei. Ich komme nur nicht darauf“, meinte er, ohne auf ihre Frage einzugehen. 

„Birke!“, gab sich Toni siegessicher und begann, um ihn herumzuwirbeln. 

„Hervorragend, Birke mochte ich schon immer“, gab sich Tobias erfreut. 

Toni war völlig verwirrt. Sie hatte doch die Mischung doch extra für die Abwehr böser Geister erworben. „Weiche Dämon“, versuchte sie es nun direkt. 

„Ich bin kein Dämon“, kicherte Tobias. 

„Was dann? Ein Teufel? Ein Untoter? Ein Gespenst? Asmodäus? Ha, du bist Asmodäus und hast meine Ehe zerstört!“, beantwortete sie ihre Frage lautstark selbst. 

„Asmodäus kenne ich tatsächlich. Ein wilder Hund, der war lange Zeit in Hamburg und treibt nun sein Unwesen in De Wallen“, führte Tobias mit Anerkennung aus, „aber ich bin ein Schutzengel!“ 

„Du bist was?! Ein Schutzengel? Ha! Ein wirklich toller Schutzengel!“, echauffierte sich Toni. 

„Na, ja, das Jahr lief nicht ganz perfekt…“, begann er, doch da unterbrach ihn Toni schon.

„Nicht ganz perfekt? Wo bist du denn gegen die Wand gerannt! Eine Katastrophe, ein Alptraum ohne Ende!“, fauchte ihn Toni an. 

„Ja, wie gesagt, nicht ganz optimal“, blieb Tobias ruhig, „aber ich musste dich zuerst freischaufeln und das ist mir ja ganz gut gelungen.“ 

Toni dachte einen Moment nach. Tatsächlich war sie ohne ihren unglaublich langweiligen Ex-Mann glücklicher. Die Katze war nicht wirklich stubenrein, die Arbeit war nur frustrierend und die hässliche Küche ein Erbe ihrer Schwiegermutter. Nur beim Auto lag Tobias völlig daneben. 

„Vielleicht bist Du ja tatsächlich ein Schutzengel“, meinte Toni nun.

„Lass Dich überraschen“, meinte Tobias vergnügt und verschwand genauso plötzlich wie er aufgetaucht war. 

Abends räucherte sie erneut und lüftete anschließend die ganze Wohnung. Ein Gefühl von Befreiung und Leichtigkeit durchströmte sie. Die nächsten Tage verliefen beschwingt, und sie fuhr sogar mal wieder mit der Lokalbahn in die Stadt. Mit Marzipanschweinen in der Tasche stieg sie in den Bus und bemerkte gar nicht, dass einige Leute aussteigen wollten.

„Könnten Sie nicht warten?!“, schnauzte sie eine ältere Dame an.

„Ich bin nur etwas verwirrt“, antwortete Toni gedankenverloren.

Ein Mann mittleren Alters, der lässig angelehnt die Szene verfolgte, lächelte sie an „Alkoholbedingt?“, fragte er charmant.

„Nein, nur so ein bisschen verwirrt“, antwortete Toni.

„Besser verwirrt, als alles normal zu finden. Ich heiße übrigens Ullrich“, fuhr er fort.

Toni wusste nun genau, was ihr Schutzengel mit dem Auto bezwecken wollte. Ullrich hatte eine Harley in seiner Garage und fuhr nur im Winter öffentlich. Als selbstständiger Küchenausstatter mit über hundert Angestellten hatte er ein beachtliches Vermögen angehäuft. Schon am Silvestertag verfügte Toni über eine Markenküche, die man sonst eher in Villen fand. Das Feuerwerk aus Tschechien war zwar verboten, doch Ullrich besorgte es im Herbst auf seinen Motorradtouren. Auch das generelle Verbot der Knallerei hielt ihn nicht davon ab, auf der Nebenstraße mitten in der Wohngegend um Mitternacht zur traditionellen Dämonenabwehr alles abzufeuern, was er hatte.

Toni liebte diese Unangepasstheit, dieses Wilde, dieses Leben. Natürlich regten sich die Nachbarn auf. Die Nachbarin von gegenüber meinte, dass ihr Hund völlig erschrocken war, vom Feinstaub ganz zu schweigen. Toni gefiel seine ruhige, nachvollziehbare Antwort, dass sie sich einmal im Jahr mit ihrem Köter nicht anscheißen sollte und er mit seiner neuen Freundin nun sowie vögeln gehen würde, um das neue Jahr gut zu begrüßen.

Toni fühlte sich wie eine heiße Braut , war bereit für das neue Jahr, bereit für Ullrich, bereit für das echte Leben – und bereit für die Eröffnung ihrer verruchten Bar. Als sie sich nackt auf das Sofa fallen ließ und Ullrich sie küsste, sah sie ihren schelmisch grinsenden Schutzengel am Fenster sitzen und machte eine kleine Geste, dass er sich gefälligst umdrehen sollte.

Harald, 27. Dezember 2024.

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