Einmal musste ich mit meinem Fahrrad unfreiwillig das Einkaufszentrum „Von allen fünf Sinnen“ aufsuchen, weil nur dort Gummipfropfen mit einem speziellen Durchmesser erhältlich waren, die ich benötigte, um meine Flaschen mit selbst gekeltertem Birnenmost während der Gärung zu verschließen.
Das Zentrum war für mich die Hölle. Von den Decken zuckten überall die unregelmäßigen Blitze des Kaufrausches, aus überdimensionalen Lautsprecherboxen dröhnten gleichzeitig eine Technoversion des Rubelwalzers und eine symphonische Bearbeitung des Million-Dollar-Boogie, es stank in der gesamten Anlage nach Moschus- und Taurinparfum, auf Gesichtshöhe wurde einem von allen Seiten mit Rindfleischaroma angereichertes Pommes-Frites-Fett in den Mund geblasen und sogenannte Abgreifer und Abgreiferinnen versuchten die potentiellen Konsumenten durch sexualisierende Berührungen in eine erotisch konnotierte Kaufexstase zu versetzen.
Noch ehe ich den Gummipfropfenladen erreichte, geriet ich angesichts solcher Reizüberflutung aus den Fugen, stürzte zu Boden und fiel bei dieser Gelegenheit auseinander in meine Einzelteile, das heißt, mein Kopf und meine Gliedmaßen lösten sich vom Rumpf ab und kugelten in wildem Durcheinander über den Boden des Einkaufszentrums.
„Kannst du nicht aufpassen, Alter?“, schimpfte eine Influencerin, der mein Schädel vor die Füße gerollt war. „Musst ja nicht gleich den Kopf verlieren!“
Zu meinem Erstaunen ging es mit den Umständen entsprechend gut, ich verspürte keinerlei Schmerzen.
„Nehmen Sie sofort Ihr Bein von meinem Schuh!“, rief jemand anderes. „Sonst verklag ich Sie!“
Binnen weniger Sekunden bildete sich eine Menschentraube um mich, deren Angehörige meine auf dem Boden verstreuten Einzelteile verständnislos musterten.
„Wie kann man sich bloß so gehen lassen?“, fragte ein Bärtiger, der die Größe eines Basketballspielers hatte. „Fällt einfach auseinander und hält uns vom Shoppen ab!“
„Asozialer Kerl!“
„Antikonsumterrorist!“
„Mit Verlaub“, entgegnete ich. „Dieser Konsumtempel ist mir insgesamt zu intensiv. Ich wollte bloß ein paar Gummipfropfen erstehen!“
„Frechheit!“ schrie jemand. „Erst zerreißt er sich und jetzt auch noch sein Maul!“
Endlich schoben zwei Männer vom Sicherheitsdienst die Menge auseinander und pflanzten sich mit verschränkten Armen vor mir auf.
„Nehmen Sie sich doch zusammen!“, forderte der eine mich auf. „Sie schädigen hier das Geschäft!“
„Das würde ich ja!“, sagte ich, „aber es geht nicht, es tut mir in der Seele weh! Es ist mir gerade jemand auf den Geist gegangen!“
„Wer war es?“, fragte der Wachmann.
„Sie selber!“, rief ich. „Und sie stehen immer noch drauf, mit Ihrem Fuß, auf meinem Geist.“
Erschrocken trat der Wachmann einen Schritt zur Seite. Endlich konnte ich meinen Geist, der ebenfalls aus meinem Körper herausgefallen war, wieder in meinen Kopf fahren lassen und nach und nach alle Gliedmaßen wieder mit meinem Rumpf vereinigen. Schließlich stand ich auf und klopfte mir den Schmutz aus den Kleidern.
„Hochstapler!“, rief einer. „Es war bloß ein ganz billiger Taschenspielertrick!“
„Ganz genau!“, bestätigte ich, stopfte mir zwei Fetzen, die ich von einem Papiertaschentuch abriss, in die Nase, presste meine Lippen zusammen, hielt mir die Ohren zu, setzte einen Tunnelblick auf und pflügte mir mit nach vorn gestreckten Ellbogen eine Schneise durch die Menge, die augenblicklich jedes Interesse an mir verlor.
In dem Gummipfropfenladen kaufte ich mir einen Zehnjahresvorrat an Pfropfen, damit ich diesen Ort des Grauens zumindest ein Jahrzehnt lang nicht mehr aufsuchen musste. Danach radelte ich befreit nach Hause.
Michael, 27. Dezember 2024
Passend zum vorweihnachtlichen Einkaufswahnsinn. Man könnte meinen, die Menschheit verliert den Verstand, je näher der 24. Dezember rückt.
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