„Peter, hast schon gehört?“, fragte seine Frau Susanne.
„Was denn?“, antwortete Peter wenig aufmerksam.
„Der Heinrich hat einen Geist entdeckt!“, verriet Susanne die Sensation.
„Was hat er entdeckt? Der hat sich doch noch nie für Lyrik interessiert“, wunderte sich Peter.
Susanne machte den Fernseher leiser.
„Nein, nicht einen Kleist, sondern einen Geist!“, klärte Susanne Peter auf.
Peter schüttelte den Kopf, aber Heinrich war schon immer etwas merkwürdig und dieser Umstand war mit zunehmenden Alter nicht besser geworden.
„Und wo wohnt nun sein Geist? Im Keller?“, fragte Peter lächelnd.
„Nein, in ihm. Er hat ihn anscheinend wiederentdeckt, da der Geist immer schon in ihm wohnte“, meinte Susanne.
„So, so“, murmelte Peter, „vielleicht wohnt ja auch ein Geist in mir!“
Susanne lachte über Peters Annahme.
„Also wenn in dir ein Geist wohnen sollte, dann müsste ich das wohl wissen“, antworte sie, „und eher bist du wohl von allen guten Geistern verlassen.“
Peter konnte mit dieser Redewendung nicht viel anfangen und nickte nur zustimmend.
Eine Woche später sprach der ganze Ort von Heinrichs Geist. Nicht wenige wollten schon seit langer Zeit wissen, dass mit Heinrich etwas nicht stimmte.
„Der muss doch immer zu allem seinen Senf dazugeben“, meinte eine ältere Frau beim Bäcker.
„Typisch Lehrer“, ergänzte die Verkäuferin.
„Außerdem soll er sich jetzt kurz vor der Pensionierung auffällig oft mit einigen seiner Schülerinnen privat treffen“, führte die ältere Frau weiter aus, „als ob seine deutlich jüngere Frau nicht reichen würde.“
„Alter weißer Mann“, urteilte die Verkäuferin abfällig.
In der Metzgerei, im Pfarrgemeinderat, im Dorfwirtshaus und am Wochenmarkt wurde die Gerüchteküche am Brodeln gehalten.
Waltraud, eine Klatschtante der Extraklasse, fasste die Erkenntnisse nach wenigen Tagen wie folgt zusammen: „Hast schon gehört? Der Heinrich ist Satanist, treibt es mit seinen Schülerinnen und hört Rockmusik aus den 80ern!“
Meist wussten die Zuhörer:innen nicht, was schlimmer war: Das Treiben mit den Schülerinnen oder die Rockmusik aus den 80ern.
Heinrich ließ sich nicht beirren. Und Ende Jänner war es so weit. „I wanna Rock!“, tönte es aus dem Turnsaal der Oberstufe. Junge Männer mit langen Haaren, geschminkt, Mädchen in völliger Rage, die verdrehten Schwestern waren wohl in den kleinen Ort gekommen, um in einem Musical gegen Engstirnigkeit, für Freiheit, Frieden und Liebe in einer Zeit der Orientierungslosigkeit zu kämpfen. Die anfänglichen Proteste vor und während der Vorstellung legten sich bereits nach einer Stunde und es konnten sieben Zusatztermine aufgrund der hohen Nachfrage nochmals ausverkauft werden.
Heinrich konnte so mit seiner Hommage an die 80er – Band „Twisted sister“ einen echten Hit landen.
„Ich habe immer schon an Heinrich geglaubt, ein echter Künstler“, konnte nun beim Bäcker vernommen werden.
Die Gerüchteküche entstand im übrigen dadurch, dass Heinrich einem Nachbarn erzählt hatte, dass er aufgrund der aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen seinen Kampfgeist wiederentdeckte.
Selbst der Umstand, dass er mit einer seiner Schülerinnen, die im Musical mitwirkte und zumindest volljährig war, tatsächlich mehrmals schlief, wurde ihm verziehen, schließlich waren die 80er einfach urwild.
„Peter, dreh den Fernseher noch lauter“, meinte Susanne, als das Musical es noch tatsächlich in den öffentlichen Rundfunk schaffte, nahm Peter an der Hand und begann mit ihm wie wild durchs Wohnzimmer zu hüpfen. „We’re not gonna take it….“ wurde aktueller denn je.
Harald, 10. Jänner 2025.