Andreas haderte mal wieder mit seinem Schicksal. „Es ist alles so gefährlich“, murmelte er vor sich hin, „Skifahren, Alkohol selbst in geringster Menge, Sitzen, Rauchen sowieso!“ Insgeheim wollte er noch Frauen hinzufügen, aber das wäre politisch einfach nicht korrekt und eben zu gefährlich. Andreas Risikominimierung trieb manchmal seltsame Blüten. Das Wiener Schnitzel wurde toxisch, die Nahrungsaufnahme generell kompliziert. Versicherungspolizzen, die das Leben und die Gesundheit schützen sollten, füllten mittlerweile zwei Ordner. Als Mitarbeiter eines großes Handelskonzerns hatte er zumindest einen halbwegs sicheren Arbeitsplatz, auch wenn er lieber Beamter gewesen wäre. Sein Smart-Ring lieferte rund um die Uhr Gesundheitsdaten auf sein Mobiltelefon, was ihn aber auch nicht nachhaltig beruhigte, oft sogar im Gegenteil in Aufruhr versetzte, wenn mal wieder der Schlaf ohne wirklichen Grund als nicht so tief wie idealtypisch angezeigt wurde. Apollon war mit Andreas sehr zufrieden und trieb ihn immer weiter an. Als er in seinen 40ern die siebte Pensionsvorsorge abschließen wollte, kam Dionysos auf den Plan. Lange hatte er zugesehen, nun reichte es ihm. Es fing damit an, dass Andreas nach seiner morgendlichen Dusche den Smart-Ring nicht mehr finden konnte. Er zitterte fast schon am ganzen Leib, als er das Haus verließ und seine App keinen Blutdruck oder dergleichen anzeigen konnte. Als er in der Mittagspause seinen gewohnten Spaziergang mit den abgezählten Schritten machte, ging er aus für ihn unerfindlichen Gründen in ein Motorradgeschäft und kaufte einen Streetfighter einer italienischen Marke. Bereits am Nachmittag kündigte er seinen für ihn doch langweiligen Bürojob und besuchte nun die Kunstakademie. Die Versicherungen wurden allesamt gekündigt und auch höhere Abschläge hinderten Andreas nicht, sein Bargeldvermögen drastisch zu erhöhen bzw. lieber in hochriskante Aktien zu investieren. Selbst die Wohnung wurde verkauft und es reichte plötzlich eine kleinere Mietwohnung. Er trug auffällige Markenkleidung, kaufte eine Schweizer Uhr um 120.000 Euro, Rotweine nur mehr im dreistelligen Bereich und war selbst an der Kunstakademie so etwas wie ein bunter Hund. Natürlich war Dionysos, der alte Haudegen, noch nicht zufrieden. Im dritten Monat an der Universität lernte Andreas eine Studentin kennen, die ihn in Liebesdingen wieder deutlich kreativer werden ließ. Die Kunstakademie wurde so für Andreas generell mit wechselnden Partnerinnen zu einem Fundus in Liebessachen. Als ihm Anna, die er bereits vor vier Monaten wegen einer für ihn moderneren Dreierbeziehung verlassen hatte, eröffnete, dass er Vater werden würde, konnte Andreas wieder einen etwas rationaleren Gedanken fassen. „Wer bin ich und was mache ich hier“, fragte er sich ernsthaft, als er einen Waldspaziergang unternahm. „Du bist Lebenskünstler, ein Genießer, ein Rauschsuchender“, bekam er unerwartet eine Antwort. Da stand doch tatsächlich der bärtige Dionysos samt seinem lärmenden Gefolge vor ihm. „Ha, wusste ich es doch, so bin ich also gar nicht“, triumphierte Andreas schon fast. „Doch so bist du“, lächelte Dionysos. „So bist du aber auch“, konterte nun Apollon, der unvermutet nackt schräg rechts vor ihm stand und ihm von sittlicher Reinheit und Mäßigung vorschwärmte. Nach wenigen Minuten war der Spuk auch wieder vorbei, Andreas blieb etwas ratlos zurück. Er kaufte wenig später eine Dreizimmerwohnung, in die er mit seiner schwangeren Freundin zog. Das Motorrad blieb, neben dem Kunststudium arbeitete er in einer Galerie. Der einen oder anderen Studentin konnte er trotzdem nicht Wiederstehen, kümmerte sich nun aber auch um die Verhütung. Als seine Tochter zu Welt kam, schloss er sofort für sie eine Lebensversicherung und einen Bausparer ab. Irgendwie war sein Leben nun anders, änderte sich oft von Tag zu Tag, pendelte zwischen Apollon und Dionysos. Und Andreas lächelte vielleicht gerade deswegen oft sehr zufrieden.
Harald, 24. Jänner 2025.