Schnitzeljagd

„Finden Sie es nicht auch langweilig“, fragte ein vorlauter Student den Professor Korner, der schon seit Jahrzehnten an der Jagduniversität von Halalingen Pirsch- und Schusskunde unterrichtete und als absolute Kapazität galt, „immer nur aufs ganze Wild zu gehen und niemals gezielt bestimmte Teilaspekte aufzu­greifen?“

„Sie reden Unsinn, Herr Kollege“, blaffte der Professor Korner zurück, „und Sie wissen es! Wie sonst soll man aufs Wild gehen, wenn nicht im Ganzen?“

Der Student lächelte verschmitzt.

„Sie sind von der alten Schule, Herr Professor, und Sie wissen es! Das ehrt Sie zweifellos! Millionen von Rehen und Hirschen haben aufgrund Ihrer Lehren ihr Leben gelassen, Ihre Schüler haben Schluchten und Täler und finstere Haine und schattige Forste leergejagt und blankgeschos­sen und sind dabei stets aufs Ganze gegangen, immer nur stur aufs Ganze, so wie Sie Ihre Studenten es in all den Jahren zuvor gelehrt haben! Was aber wollen wir wirklich vom toten Wild? Wollen wir wirklich das Ganze?“

„Sagen Sie es mir, mein junger Gescheitbär!“, rief der Professor erbost. „Wenn Sie es wissen, dann sagen Sie es mir jetzt! Ich wette, Sie wissen gar nichts!“

„Wir wollen das Schnit­zel!“, triumphierte der Student. „All unser Streben gilt in Wahrheit dem Schnit­zel! Im 21. Jahrhundert sollte unsere Jagd endlich eine Schnitzeljagd sein!“

„Un­sinn!“, donnerte der Professor. „Ich wusste es! Sie reden Unsinn! Um ans Schnit­zel heranzukommen, muss man das ganze Wild töten! So steht es schon in der Bibel und im Gilgamesch-Epos! Wie sonst wollen Sie zum Schnitzel gelangen? Wollen Sie es etwa aus dem flüchtenden Tier herausschießen?“

Der Student lä­chelte abermals.

„Ich habe tatsächlich einen Filettierapparat erfunden und gleich konstruiert, der Pirsch und Schussabgabe überflüssig werden lässt. Der Apparat wird mittels einer Drohne nachts völlig geräuschlos zu den Schlaf­plät­zen des Wildes im Wald befördert. Die Tiere werden durch eine Sprühvor­rich­tung sanft chloroformiert. Mit Hilfe einer Kamera kann der Drohnenpilot auch aus großer Entfernung ein passendes Reh oder einen passenden Hirsch wählen. Der Apparat schneidet dann ferngesteuert mit den Mitteln der minimalinversiven Chirurgie Schnitzel aus dem gewählten lebenden Wild, versorgt und vernäht die Wunde und fliegt danach wieder mit Hilfe der Drohne mit dem so gewonnenen Wildbret zu seinem Auftraggeber zurück.“

„Sprücheklopfer, Phantast, Lügner!“, rief der Professor Korner aufgebracht. „Ich glaube Ihnen kein Wort!“

„Das dachte ich mir schon!“, erwiderte der Student. „Deswegen habe ich meinen Apparat gleich mitgebracht. Wenn Sie mir also in den Universitätsgarten folgen wollen, werde ich es Ihnen im Jagdversuchsgehege an dem dortigen Rudel gern demons­trieren!“

„Sie werden sich unsterblich blamieren“, rief der Professor, „und sich ein anderes Studienfach suchen müssen!“

Der Student begann Professor Korner sanft in Richtung Jagdversuchsgehege zu schieben.

„Sie werden Abbitte tun müs­sen, Herr Professor!“, sagte der Student. „Ich werde Ihnen alles demonstrieren!“

Am Gehege holte er seinen Apparat nebst passender Drohne aus seinem Ruck­sack. Er richtete alles ein und bereitete den Start vor.

„Sehen Sie genau hin, Herr Professor! Sie werden Zeuge einer Revolution!“

„Pah!“, rief der Professor und machte eine abschätzige Handbewegung.

Die Drohne erhob sich in die Luft und flog auf das gar nicht scheue Wildrudel zu.

„Nun folgt die Chloroformierung!“, erläuterte der Student und verlor im nächsten Augenblick unerwartet die Fas­sung.

„Verdammt!“, rief er. „Die Fernsteuerung bockt! Verfluchtes Ding! Du sollst auf das Rudel zuhalten, nicht auf den Professor Korner!“

Es war zu spät. In dem Augenblick, in dem die Drohne den Kopf des Professors überflog, setzte sie ihr Schlafgas frei und beförderte Korner in eine tiefe Bewusstlosigkeit.

Es war vorbei. Der Student war kläglich gescheitert, die Angelegenheit war erledigt.

Als Professor Korner endlich wieder erwachte, lag er in seinem Bett in seinem Schlafzimmer.

„Gottsei­dank nur ein böser Traum!“, seufzte er erleichtert. Im selben Augenblick aber schoss ihm ein stechender Schmerz in beide Schlegel. Der Professor tastete in­stinktiv die Innenseiten seiner Oberschenkel ab und gewahrte die frisch vernäh­ten Wunden.

Er hatte sich getäuscht. Die neue Jagdmethode funktionierte doch. Der Professor begriff mit einem Schlag, dass seine Zeit als Jagdlehrer damit end­gültig abgelaufen war.

Er wälzte sich ächzend aus dem Bett, warf sich zwei starke Schmerztabletten ein, griff zum Telefon, rief das Wissenschaftsministe­ri­um an, ließ sich mit dem zuständigen Sektionschef verbinden und bat um seine sofortige Emeritierung.

Michael, 13. Juni 2025

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