Ich wog mein Müsli ab. Die genaue Zusammensetzung hatte ich aus einem Blog, der mir half, gesund und jung zu bleiben. Mit meinen 23 Jahren hatte ich bereits das Gefühl, dass es ohne aktives Gegensteuern aber so richtig bergab ging. Alkohol und Zigaretten hatte ich nie angerührt, selbst Smoking Girls wirkten auf mich abstoßend.
Meine Smartwatch wurde von einem Smartring ergänzt. Ich konnte mir nicht vorstellen, mehrere Stunden ohne Körperüberwachung zu überleben – was, wenn einem der Geräte mal der Akku ausging? Sicherheitshalber ging ich wöchentlich zum Arzt. Die Routinechecks bestätigten: Ich war auf dem richtigen Weg. Nur manchmal hatte ich das Gefühl, mein Arzt nahm das alles nicht mehr so ernst wie ich. Deshalb suchte ich zusätzlich einmal im Monat eine Klinik auf, spezialisiert auf Langlebigkeit.
Karrieretechnisch lief alles rund. Sport, präzise abgestimmte Ernährung inklusive Supplements und viel Schlaf – das komplette Biohacker-Paket. Die letzte Genanalyse war der Knaller: Mit 25 hatte ich den Körper eines 22-Jährigen. Es sollte genau so bleiben. Meine Freundin dachte ähnlich. Wir arbeiteten beide an Strategien zur Altersumkehr. Unsere Geburtstagsgeschenke? Plasmaaustausch, der zuverlässig Mikroplastik aus dem Blut filterte. Das Ganze hatte einen kleinen, aber durchaus in kaufzunehmenden Preis: Safer sex blieb selten, da das Risiko einfach zu groß war.
Mit 26 fühlte ich mich auf dem Höhepunkt meines Daseins. Ich lernte sogar einen Tech-Milliardär kennen – den Guru der Longevity-Bewegung. Nach seinem Event war ich elektrisiert, fast entrückt. Da vibrierte plötzlich mein Smartring. Er hatte eine körperliche Ausnahmereaktion gemeldet. Ich griff sofort zum Handy – es konnte schließlich um Leben und Tod gehen. Dass von rechts ein LKW kam, konnte ich in dem Moment nicht erahnen.
An ein Leben nach dem Tod hatte ich nie geglaubt. Umso mehr überraschte es mich, als ich einem älteren Herrn gegenübersaß.
„War’s das jetzt?“, fragte ich.
Er nickte und blätterte durch meine Unterlagen. Er teilte mir trocken dann mit, dass dem Smartring nur der Akku ausging.
„Was für ein Mist!“, schrie ich aus voller Inbrunst. Er nickte und überlegte lange.
„Wir machen hier eigentlich keine Ausnahmen“, meinte er dann, „aber dein Fall ist… speziell. Ich muss Rücksprache halten.“
Am nächsten Tag war er wieder da. Ich wusste nicht, wie ich die Zeit bis dorthin überstanden hatte. „Und?“, fragte ich. Er grinste. „Wir hatten noch nie jemanden, der es so spektakulär verschissen hat.“ Dann sah er mich ernst an: „Du bekommst eine zweite Chance. Mach was draus!“
Ich wurde wieder groß – und war 21. Ich saß vor einem Bildschirm, auf dem gerade Werbung für ein Seminar lief, Thema Bildung und Langlebigkeit. Ich grinste und hatte meine Lektion gelernt.
Also zündete ich mir eine Zigarette an, ging in die nächste Bar und bestellte nicht nur einen Whiskey. Die Frauen standen auf mich – wild, unangepasst, ein Leben im völligen Verbrauch. Innerhalb eines Monats vögelte ich mehr als in meinem gesamten vorherigen Leben. Am Handgelenk trug ich übrigens einen teuren Chronographen, dem nie der Akku ausging und um Ringe machten ich generell einen großen Bogen.
Dass ich ohne Jagd nach der ewigen Jugend und nach Langlebigkeit 98 Jahre alt werden würde, konnte ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen.
Harald, 18. Juli 2025.