An diesem Tag im Juni 1908 zweifelt sogar der ihm allzeit treu ergebene Adjudant und Büchsenspanner Hoschtalek, der in höchster Verlässlichkeit alle Treffer protokolliert, einen Augenblick lang am Verstand und an der Herzensbildung seines Herrn, des Erzherzogs Franz Ferdinand, der sich in einen nie zuvor in diesem Ausmaß dagewesenen Blut- und Schlachtrausch hineinsteigert und mehr als zweieinhalbtausend Lachmöwen vom Himmel feuert, wie immer in traumwandlerischer Sicherheit und mit unvergleichlicher Trefferquote. Die Lakaien kommen gar nicht nach mit dem Laden der zahlreichen Büchsen, die dem Thronfolger in schneller Folge gereicht und unaufhörlich eingesetzt werden. Die Vogeltreiber, die die Möwen aufscheuchen und zum Abheben zwingen müssen, stehen unter ähnlich großem Druck. Nach den ersten fünfhundert Treffern macht Hoschtalek dem Erzherzog noch Komplimente und trägt die Zahl lachend in das mitgeführte Buch ein; als die tausendste Möwe tot zu Boden fällt, wissen die Helfer schon nicht mehr so recht, wo und wie sie die Kadaver der Vögel noch hinlegen sollen; sie schichten die gesamte Strecke auf zu einem grotesk anmutenden Vogelkegel, während der Thronfolger weiterschießt aus allen Rohren und ohne Unterlass nach immer neuen geladenen Büchsen verlangt. Nach tausendfünfhundert Abschüssen wagt der Büchsenspanner seinem Dienstherrn gegenüber murmelnd die Bemerkung, dass die Spezies der Lachmöwe nun wohl bald ausgerottet sei, und ahnt noch nicht, dass Franz Ferdinand, der sich der Bemerkung gegenüber taub stellt, gerade die Hälfte seiner Abschüsse an diesem Tag getätigt hat und erst nach insgesamt 2763 Treffern endlich in der Abenddämmerung die letzte noch glühende Büchse aus der Hand legt und bemerkt, dass die Zeit wie im Flug vergehe, wenn man sein Waidwerk nur mit dem nötigen Ernst und Eifer betreibe. Als Hoschtalek nachdenklich den aufgeschichteten Kegel aus toten Vögeln betrachtet und schließlich das Endergebnis im Buch festhält, spielt er einen Augenblick lang mit dem Gedanken, auf der Stelle seinen Dienst zu quittieren. Doch als der Thronfolger ihm anerkennend und lachend auf die Schulter klopft, weiß der Adjudant, dass dies bloß ein Hirngespinst und ein kurzer Moment der Schwäche war und dass er auch in den kommenden Tagen, Wochen, Monaten und Jahren wie in der Vergangenheit alle Abschlüsse seines Dienstherrn akribisch dokumentieren wird, weil es seine Pflicht ist, die Erinnerung an die ungeheuerliche Leidenschaft des Erzherzogs in ihrem vollen Ausmaß für die Nachwelt zu bewahren.
Michael, 18. Juli 2025