Rehragout


Als Plättner am Morgen seine Tochter fragte, welches Gericht sie sich als Mittags­mahl wünschte, gab sie zur Antwort, dass ihr der Sinn nach Rehragout stünde, und zwar vom selbst überfahrenen Reh. Plättner nahm das Ansinnen seiner Tochter ernst, packte seinen Feldstecher und stieg in seinen SUV. Er fuhr hinaus auf die Landstraße und machte sich auf die Suche nach den Rehen. Weil er wuss­te, dass sie besonders gern die Knospen von Türkenbund-Lilien fraßen, hielt er nach den seltenen Blumen Ausschau. Natürlich hatte er aber auch seine doppel­läufige Schrotflinte im Kofferraum, für den Fall, das ihm überhaupt kein Exem­plar des scheuen Wilds vor den Kühlergrill hüpfte. Oben auf der sogenannten Niederwildkuppe hielt er an und stellte den Motor ab. Plättner blieb aber im Fahrzeug sitzen, ließ das Fenster herunter und suchte mit dem Feldstecher die Ausläufer des Hügels ab. Er hatte großes Glück und entdeckte unweit von seiner Position ein Rudel Rehe, die sich gerade an den geschützten Knospen gütlich ta­ten. Plättner brachte den Ganghebel in Leerlaufposition und ließ sein schweres Fahrzeug lautlos den Hügel hinunterrollen, genau auf das genüsslich äsende Wild zu. Er gewann rasch an Geschwindigkeit und näherte sich den Rehen bis auf we­nige Meter, als sie ihn im letzten Augenblick doch noch bemerkten und auseinan­der stoben und die Flucht ergriffen. Plättner unterdrückte die Verwünschung, die ihm schon auf der Zunge lag und schaffte es mit Hilfe der Handbremse, sein Fahrzeug in letzter Sekunde zum Anhalten zu bringen. Er stieg aus und sah zu den Rehen hinüber, die sich in sicherer Entfernung wieder zu einem Rudel for­miert hatten. Plättner ballte die Faust und drohte den Tieren, indem er seinen ausgestreckten Arm schüttelte. Als er die Reaktion der Tiere prüfte, bildete er sich ein, dass sie ein wenig schelmisch zu ihm herübergrinsten. Er stieg ins Auto und ließ den Motor an. Trotzig fuhr er auf das Rudel zu, das aber natürlich auf der Hut war und abermals rechtzeitig das Weite suchte. Zähneknirschend ge­stand Plättner sich ein, dass seine besondere Art der Jagd für diesen Tag gelaufen war. Um sich abzureagieren, feuerte er den Tieren mit der Schrotflinte, die er aus dem Kofferraum holte, noch ein paar Salven hinterher, die aber nicht trafen. Plättner ärgerte sich, dass er seine Tochter, die sein Ein und Alles war, enttäu­schen würde müssen, was ein Ragout aus selbst überfahrenem Reh anging. Auf der Rückfahrt ünterschätzte er zudem in einer berüchtigten Haarnadelkurve die dort wirkenden Zentrifugalkräfte, durchbrach einen Zaun, schlingerte mit seinem SUV durch einen preisgekrönten Gemüsegarten und überfuhr dabei die komplet­te Kürbisernte eines flüchtigen Bekannten, der gottlob gerade nicht zu Hause war. Plättner, der wie durch ein Wunder unversehrt geblieben war, nahm ein paar der halb zermatschten, rosafleischigen Kürbisse mit und fuhr nach Hause. Obwohl er die Früchte mit Trockenwildpulver bestreute, ehe er sie zu einem Ra­gout verarbeitete, konnte er seine Tochter nicht hinters Licht führen. Sie strafte ihn mit Verachtung, während sie einander gegenüber saßen und schweigend aßen.

Michael, 25. Juli 2025

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