Reverse Hunting

Es war dieser kurze Moment, Kelvin, der Hirsch und der Abzug. Vielleicht ein Wimpernschlag vor dem Knall, dieses Gefühl der Kontrolle, Ruhe. Eine Ruhe, so tief, als fiele jemand in einen alten Fauteuil-Sessel. Die Verbindung zum Tier war bereits spürbar, nichts trennte Kelvin. Alles passierte zeitgleich: Kelvins Abzug bedeutete den Tod, die Zeit dazwischen war nicht mehr wahrnehmbar. Und genau dieser Moment war alles für Kelvin, dafür war er auf der Jagd, dafür lebte er. Den Finger am Drücker, immer suchte Kelvin diesen Moment, damit er nie aufhören musste, die Kontrolle zu verlieren – eine Kontrolle, die er nirgends sonst antreffen konnte. Kelvin glaubte, selbst den Atem des Tieres spüren zu können und glich seinen Atemrhythmus dem des Hirschen an. Durch sein Zielfernrohr konnten sie sich in die Augen schauen. Es war wie in „Spiel mir das Lied vom Tod“, der Hirsch und er, beide umgeben von einer Einsamkeit. Statt der Melodie röhrte der Hirsch kurz auf, Kelvin drückte ab. Der Hirsch fiel nicht, er stand noch immer wie der Terminator. Kelvin feuerte ein zweites und drittes Mal. Der Hirsch schaute nun in seine Richtung und Kelvin verließ den Hochstand, um sich den Hirsch aus der Nähe anzusehen. Der war – so seine Annahme – sicher tot, nur nicht umgefallen. Als er beim Hirsch angekommen war, der noch immer keine Anstalten machte, endlich das Zeitliche zu segnen, sah er zwischen seinen Eckzähnen drei Kugeln. Der Hirsch lächelte, schüttelte seinen Kiefer und spuckte ihm die drei Kugeln vor seine Füße wie bei Remo, der schneller dachte, als die Kugel flog. Kelvin wusste, dass er nun schnell sein musste. Er rannte los, der Hirsch röhrend hinter ihm her, wie es sonst wohl nur Indiana Jones passieren konnte. Das Geweih traf abwechselnd seine Schulter, seine Wirbelsäule und sein Gesäß. In Rocky-Manier teilte das Vieh auch mit den Beinen kräftig aus. Diese Jagd dauerte fast über eine Stunde, bis Kelvin endlich die Forststraße und seinen Munro-SUV erreichen konnte. Die Sitzheizung konnte seine Gesäßschmerzen nur leicht lindern, und seiner jüngeren Ehefrau konnte er diese Schmach erst recht nicht erklären. Um andere Jäger:innen vor solchen Hirschen zu warnen, veröffentlichte er seine Geschichte in zahlreichen, auch internationalen Jagdforen. Zwei Jahre später konnte eine Jägerin dank Reverse Hunting nachweisen, dass diese Geschichte zur Gänze von einem allein lebenden Cineasten namens Kevin erfunden wurde.

Harald, 25. Juli 2025.

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