Jagd auf weiße Männer

Martin verließ sein Stammlokal mit einem drückenden Gefühl. „Nirgends kann man mehr offen seine Meinung sagen“, murmelte er vor sich hin. „Jeder fühlt sich gleich beleidigt, und dieser ganze Gender-Unsinn ist doch nur was für Weicheier!“ Auch beruflich lief es nicht mehr wie gewohnt. Früher galt er als unumstrittene Führungskraft, doch mittlerweile musste er an Diversity-Kursen teilnehmen. Das Einzige, was ihm an diesen Kursen gefiel, waren die Witze, die er danach zum Besten gab.

Vor einiger Zeit hatte sich seine Tochter von ihm entfremdet, ihm sogar vorgeworfen, radikale Ansichten zu vertreten. „Nur weil ich denke, dass Frauen besser zu Hause aufgehoben sind, habe ich deshalb eine veraltete Einstellung?!“, warf er ihr als letztes vor. Zwei Monate später verließ auch seine Frau ihn, was er anfangs als kaum spürbaren Verlust hinnahm. Wohl in seiner Verzweiflung suchte er Anschluss in einer Gruppe gleichgesinnter Männer, die er über einen YouTube-Kanal kennengelernt hatte. Dort lernte er gegen ein sattes Honorar, wie man Frauen „richtig“ anmacht – ein Ansatz, der ihm zunächst vielversprechend erschien. Leider stellte er schnell fest, dass diese „Techniken“ in der Praxis nicht funktionierten. Der Guru der Männergruppe meinte beiläufig, er zeige wahrscheinlich noch zu wenig Selbstbewusstsein und müsse den „richtigen Akzent“ setzen. Dies führte zu mehreren Ohrfeigen, was Martins Vertrauen in das andere Geschlecht weiter erschütterte. Verbittert verbrachte er die folgenden Wochen.

Dann stieß er in einer Buchhandlung auf ein Buch einer Punk-Sängerin. Noch nie hatte er ein so authentisches Sachbuch einer Frau gelesen. Die Themen Belästigung, gewalttätige Männer und das selbstbewusste Sexualleben dieser Frau ließen ihn nachdenken. Es war, als öffnete sich ein Fenster in seinem Kopf. Er verließ die Social-Media-Gruppe und nahm zum ersten Mal seit Langem wieder Kontakt zu seiner Tochter auf. „Entschuldigung, einfach nur Entschuldigung“, begann er das Gespräch, mit einer Demut, die er lange nicht gefühlt hatte. Sie verzieh ihm rasch, und sie fanden wieder zueinander.

Auch in der Firma änderte sich viel. In seiner Abteilung stellte er erstmals eine Transfrau ein. Wenn jemand unangemessene Kommentare machte, griff er entschieden ein. „Kein Rassismus, keine Diskriminierung!“, rief er immer wieder, mit einer neu gewonnenen Überzeugung, die er nie für möglich gehalten hätte.

Nun begann er, Frauen auf eine völlig neue Art kennenzulernen. Er schätzte ihr Selbstbewusstsein, hörte ihnen zu und erfüllte gerne ihre Wünsche – und bemerkte, dass er dabei in jeglicher Hinsicht mehr auf seine Kosten kam, als er es sich je erträumt hätte.

Er erkannte schließlich, dass er in der Vergangenheit nicht das Opfer, sondern der Täter gewesen war. Die „Jagd auf weiße Männer“ – eine Mär, der ihm einst als Erklärung für alles diente – war nie mehr als eine bequeme Ausrede. In Wahrheit hatte er vorher nie wirklich verstanden, was es bedeutet, Verantwortung zu übernehmen und reflektiert zu handeln.

Harald, 22. August 2025.

Hinterlasse einen Kommentar