Weiße Wildgänse


Von meinem Nachbarn Wampeck weiß ich, dass er ein passionierter Fleischesser ist, dass er Geflügel besonders schätzt und sich aber aus Geiz meistens bloß ge­chlorte Billighühner gönnt, deren Kadaver beim Diskonter jeweils schon kurz vor dem Ablaufdatum stehen und deshalb noch einmal preisreduziert sind.

„Wam­peck, alter Gourmet!“, sage ich daher zu ihm, als ich ihn zufällig vor seinem Haus antreffe und registriere, dass er eine Steige mit zwei Dutzend gerupften Hühner­hälften in seine Garage schleppt, „wie ich sehe, hast du dich wieder einmal mit deinem liebsten Federvieh eingedeckt. Das ist gut so! Aber sag, willst du dich nicht endlich einmal an wirklich tollem Geflügel gütlich tun?“

„Ich versteh nicht, was du mir sagen willst, August“, gibt Wampeck zurück. „Hühner sind doch ein wirklich tolles Geflügel!“

„Klar, Wampeck“, stimme ich ihm zu. „Hühner sind toll, aber was ich meine, sind Vögel, deren Verzehr einem wahre Geschmacksexplosi­on­en am Gaumen beschert! Von Wildgänsen rede ich, und zwar nicht von herkömmlichen braunen Wildgänsen, die man sich in jedem Winkel im Wald selbst schießen kann! Nein, ich rede von weißen Wildgänsen, die so selten sind, dass nur wenige wahre Kenner über ihren einzigartigen Wohlgeschmack überhaupt Bescheid wissen!“

„Davon habe ich noch nie etwas gehört“, sagt Wampeck und kratzt sich nach­denk­lich am Hinterkopf, „aber wenn du von den weißen Wildgänsen so sehr schwärmst, August, dann werden sie wohl gut sein.“

„Willst du denn gar nicht wissen, wo es die weißen Wildgänse gibt?“, frage ich.

„Doch!“, widerspricht Wampeck. „Sag mir, wo diese Gänse sind und ich werde sie abknallen, braten und verspeisen.“

„Das ist der Wampeck, den ich so sehr schätze!“, rufe ich lächelnd. „Ein Mann der Tat! Also, pass auf: Wir treffen uns heute Nacht beim Waldbahnhof. Dann zeige ich dir, wo du auf Gänsejagd gehen musst. Einver­stan­den?“

Wampeck grunzt zufrieden und signalisiert Zustimmung. In der Nacht war­te ich im Dämmerschein der Notbeleuchtung am Gleisbett auf meinen jagd­lus­tigen Kumpan. In einem Zickzackkurs lotse ich Wampeck durch den nächtlichen Wald, wobei ich darauf achte, dass er einerseits die Orientierung verliert und andererseits mög­lichst oft in Brombeerhecken gerät, die ihm die Haut an seinen Beinen zerste­chen.

Als wir schließlich aus dem finsteren Forst treten, schärfe ich Wampeck ein, dass er von nun an mucksmäuschenstill sein müsse, wenn er den Erfolg seiner Pirsch nicht gefährden wolle. Ich deute mit dem Arm geradeaus und frage Wam­peck, was er dort sähe.

„Weiße Wildgänse“, flüstert er. „Aber wieso sind sie hinter einem Zaun?“ „Du stellst zu viele Fragen!“, flüsterte ich zurück. „Ich lass dich jetzt allein. So viele weiße Wildgänse bekommst du nie mehr vors Rohr!“

Während Wampeck bereits sein Gewehr in Anschlag bringt, suche ich schleunigst das Wei­te, kehre nach Hause zurück und lege mich schlafen.

Die Intensität des Klingel­tons, der mich am nächsten Morgen weckt, verheißt nichts Gutes. Einen Augen­blick lang überlege ich, ob ich mich totstellen soll, verwerfe den Gedanken aber gleich, als mir einfällt, dass ich noch auf die Zustellung eines für mich wichtigen Paketes warte. Insgeheim ahne ich aber, wer mich erwartet, als ich die Tür öffne.

„Wampeck!“, rufe ich mit gespieltem Entsetzen, als ich den zerlumpten, herun­ter­gekommenen Mann mit blauen Flecken und Beulen und Schrammen am gan­zen Körper entdecke. „War die Jagd denn etwa nicht erfolgreich? Hast du dir noch gar nicht die erste weiße Wildgans gebraten?“

„August, du mieses Stück Gänsedreck!“, schimpft Wampeck. „Ich hab sie alle umgebracht! Von wegen wei­ße Wildgänse! Es waren die Martinigänse des bekannten Mastbetriebs Fuchs! Alle bereits vorreserviert von renommierten Anwälten und Richtern! Sie werden mich auf einen sechsstelligen Betrag verklagen, hat Fuchs gesagt, nachdem er mich erwischt und verprügelt hatte!“

„Das tut mir aber leid“, sage ich mit schlecht gespielter Anteilnahme. „Das bedeutet ja, dass du weiterhin beim Diskonter nach den billigsten Chlorhühnern Ausschau halten musst.“

Wampecks Angriff sehe ich leider nicht kommen. Er stürzt sich auf mich, rammt mir ein Bündel Gänsekiele in den linken Oberarm und dreht sie in meinem Fleisch herum, bis es mir richtig wehtut.

Michael, 22. August 2025

Hinterlasse einen Kommentar