Jagd im Honiglager


„Wie macht sich denn der Neue?“, fragte der Personalchef der Honig- und Mar­me­ladenfirma den Lagerleiter Quagel. „Sie wissen ja, dass ich letzte Woche auf Dienstreise war und dass meine Sekretärin seine Einstellung zur Probe vorge­nom­men hat. Staplerfahrer sind zur Zeit ja Mangelware. Da muss man zuschla­gen, wenn einer sich freiwillig meldet.“

Der Lagerleiter kratzte sich am Hinter­kopf.

„Ja, wenn Sie mich so direkt fragen, muss ich sagen, dass ich zwiegespalten bin. Der Neue arbeitet zügig, fegt wie ein Berserker durch die Gänge und stapelt Honigfässer, dass es eine Freude ist, aber wer ihm in die Quere kommt, absicht­lich oder unabsichtlich, wird weggestoßen oder gar mit dem Stapler gerammt oder niedergemäht. Ich habe auch den Verdacht, dass der Neue eine Schwäche für unser Sortiment hat und vielleicht sogar schon etwas für sich abgezweigt hat. Am meisten stört mich aber, dass er total ungepflegt daherkommt und sich augen­scheinlich nicht rasiert, weder im Gesicht, noch an seinen Armen oder Bei­nen.“

„Ich will den Knaben sehen und auch kennenlernen“, entschied der Per­sonalchef, „bevor wir ihn verlängern und es am Ende noch bereuen.“

„Einverstanden“, sagte der Lagerleiter. „Gehen wir doch gleich hinunter ins La­ger. Der Neue hat gerade Dienst.“

Gemeinsam stiegen sie die metallene Wendel­treppe hinunter. Der Lagerleiter öffnete die Brandschutztür.

„Wir haben Glück!“, rief er. „Unser Staplerfahrer hat gerade eine Ladung Honigfässer aufgeladen. Se­hen Sie nur, er fährt geradewegs auf uns zu!“

„Aber das ist ja ein Bär!“, schrie der Personalchef. „Ein ausgewachsener Braunbär! Unser Staplerfahrer ist ein Bär!“

Sie schafften es gerade noch, zur Seite zu springen, ehe der Stapler sie fast überrollte.

„Der Kerl ist völlig durchgeknallt!“, sagte der Personalchef aufgebracht zum La­ger­leiter. „Wir müssen ihn stoppen und notfalls liquidieren! Quagel, laufen Sie hinauf in mein Büro und holen Sie mir mein Gewehr! Es ist der Bärentöter von Old Shatterhand, den ich dem Karl-May-Museum in Radebeul abgekauft habe!“

„Wie passend“, kommentierte der Lagerleiter Quagel und machte sich auf den Weg. Als er mit der geladenen Waffe zurückkam, lag der Personalchef auf dem Boden.

„Der Wahnsinnige hat noch zwei Mal versucht, mich zu überfahren!“, rief der Per­sonalchef. „Wir müssen ihn jagen, Quagel, und zur Strecke bringen!“

Der Lagerleiter nickte.

„Ich werde ihn in Ihre Richtung treiben und Sie knallen ihn ab, einverstanden?“

Der Personalchef streckte seinen Daumen in die Höhe und schickte seinen Lagerleiter los, in die Richtung, in die der staplerfahrende Bär verschwunden war. Nur wenig später hörte der Personalchef die Stimme seines Lagerleiters aus der Ferne.

„Schießen Sie! Ich treibe den Bären vor mir her!“

Der Personalchef legte an und drückte ab, als der Bär auf seinem Stapler in halsbre­che­rischer Art um die Ecke bog. Obwohl der Schuss den Bären auf Brusthöhe traf, fuhr das vor lauter Gier nach Honig von seinen Lefzen sabbernde Wildtier unbeeindruckt auf den Personalchef zu.

„Verdammt! Er trägt eine kugelsichere Weste!“, schrie der Personalchef. „Qua­gel, so tun Sie doch etwas!“

Dann verlor er das Bewusstsein.

Als er wieder er­wachte, lag er auf einer Hollywoodschaukel zwischen zwei Honigfässern. Er befand sich zweifellos immer noch im Lager. Er setzte sich auf, sah sich um und entdeckte vor sich den Bären, der in seiner Staplerfahrerkluft friedlich auf dem Boden saß und behaglich brummte. Daneben stand der Lagerleiter Quagel und kraulte dem Bären liebevoll das Kinn.

„Ganz große Klasse, Quagel“, seufzte der Personalchef. „Wie um alles in der Welt haben Sie das hinbekommen?“

„Ganz einfach“, erwiderte der Lagerleiter bescheiden. „Ich habe ihm Honig ums Maul geschmiert.“

Michael, 26. September 2025

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